■ „Aktive Maßnahmen der Zersetzung und Liquidierung“ der demokratischen Opposition sind keine Kleinigkeiten
: Die „Bagatelldelikte“ der Stasi dürfen am 3. Oktober nicht verjähren

Am 16.8.1993 sagten Christoph Schäfgen, Leitender Oberstaatsanwalt, und Manfred Kittlaus, Leiter der Zentralen Ermittlungstelle für Regierungs- und Vereinigungskriminalität, im Rundfunk:

Schäfgen: „Man müßte zuerst feststellen, was alles unter die Verjährung von sogenannten „Bagatelldelikten“ am 3. Oktober 1993 fallen würde: Das Abhören der Telefone, das Öffnen von Briefen und dergleichen. Diese Dinge waren in der DDR nur strafbar, wenn sie von Postbeamten begangen worden sind. Wir wissen aber, daß es nicht die Postbeamten waren, sondern alles auf Anweisung des MfS geschehen ist und auch durchgeführt wurde. Wir haben für das eigentliche Abhören keinerlei Rechtsgrundslage, um es strafrechtlich fassen zu können. Der Einigungsvertrag sieht vor, daß das Strafrecht anzuwenden ist, das zur Tatzeit galt. Da das Abhören der Telefone und das Öffnen der Briefe nicht unter Strafe gestellt war, kann es nun im nachhinein nicht bestraft werden. Uns bleibt nur der Vorwurf des Anmaßens amtlicher Befugnisse ... Dann haben wir das Eindringen in Wohnungen durch das Anbringen von Wanzen, wir haben das Zersetzen der Persönlichkeit durch Desinformation, durch das Streuen von Gerüchten, das ist strafrechtlich nur faßbar als Beleidigung oder als üble Nachrede. Dann haben wir vielleicht noch den Tatbestand der Bedrohung. Der ist allerdings nur dann erfüllt, wenn mit einem Verbrechen gedroht wurde. Das sind alles Delikte, die nach unseren Recht nur mit einer Höchststrafe von einem Jahr Freiheitsentzug bedroht sind. Alles andere nur mit Geldstrafe. Ich frage mich natürlich, ob es dem, was die Opfer erlitten haben, gerecht werden könnte, wenn das Anbringen einer Wanze als Hausfriedensbruch mit einer Strafe belegt werden würde, die im Höchstfall ein Jahr betragen würde. Dazu würde die Strafe zur Bewährung ausgesetzt, da diese Personen in der DDR unbestraft gelebt haben ... Ich glaube auch, daß die Zahl derjenigen, die in das Fadenkreuz der Justiz geraten würden, so unendlich groß wäre, daß die Justiz damit vor Probleme gestellt wäre. Diese Probleme könnte die Justiz auch durch eine Verlängerung der Verjährungsfrist auf weitere zwei Jahre nicht bewältigen. So daß wir dann vor der Situation stünden, daß mehr oder weniger der Zufall, die Kapazität, die die Justiz hat, oder das Aufdecken der Straftat der Indikator dafür wäre, ob jemand belangt würde oder nicht. Und die Kapazitäten der Justiz sind beschränkt.“

Kittlaus: „Zur Verjährung der ,Bagatelldelikte‘: Die Zahl von solchen Straftaten ist, soweit diese uns bekannt sind, gering. Wir vermuten aber, daß bei den nicht aufbereiteten Akten ein riesiges Dunkelfeld vorhanden sein muß. Diese ,Bagatelldelikte‘ haben den Bürger in der DDR erheblich beschwert. Wenn die Bürger dann Sachverhalte in ihren Akten finden, wird eine Verfolgung dieser Straftaten wahrscheinlich der Verjährung entgegenstehen. Man sollte überlegen, ob man eine Verjährung dieser Straftaten unterbrechen kann ... Man vergißt oft, daß eine staatlich verordnete Kriminalität dieses Umfangs und auch dieser Qualität ... bis zu Entführung und Mord ... hingeht. Wenn ein solches staatlich verordnetes Verbrechen liegengelassen wird, werden in das Rechtsbewußtsein der künftigen Generationen ganz tiefe Wunden hineingeschlagen.“

Wir zitieren diese beiden Stimmen so ausführlich, weil sie klar und alarmierend die heutige Situation der „Aufarbeitung“ beschreiben. Klärung, Aufklärung und Vergewisserung über begangenes Unrecht scheint, wie bereits nach 45, erneut steckenzubleiben. Eine SPD-Ministerin nennt die Bundesbehörde für die Unterlagen des ehemaligen DDR-Staatssicherheitsdienstes einen „Moloch“, ein CDU-Politiker möchte diese Akteneinsichtsbehörde am liebsten „aus Kostengründen“ einsparen. Als er noch Innenminister der DDR-Übergangsregierung war, behinderten von ihm eingesetzte „staatliche Komitees“ die Bürgerinitiativen zur Entmachtung der Stasi. Wir sind wieder dort angelangt, wo elementare Menschenrechte eingefordert und verteidigt werden müssen. Aus diesem Grunde protestieren wir energisch gegen das „Auslaufen der Verjährungsfrist“ zum 3. Oktober 1993 für sogenannte „Bagatelldelikte“, begangen durch Handlanger und Verantwortliche des DDR-Staates, seines Politbüros, seiner Regierung, seiner Parteien, Massenorganisationen und Ministerien, besonders durch das Ministerium für Staatssicherheit.

Politische Bemühungen, auch im Deutschen Bundestag und Bundesrat, die Verjährung zu verhindern, blieben bisher erfolglos. Das ist ein Affront gegen große Teile der DDR-Bevölkerung, die 1989 eine Diktatur gewaltfrei entmachtete. Es ist eine Beleidigung der Menschenrechtsgruppen, die trotz harter Repressionen für Freiheit, Solidarität und Demokratie kämpften. Die Einsicht in die Akten des MfS für Betroffene nach Stasi-Unterlagengesetz hat erst 1992 begonnen. Viele Bürger hatten bisher keine Gelegenheit, Einsicht zu nehmen. Entscheidende Strukturen und Verantwortlichkeiten sind nach wie vor im Dunkel. Es ist zynisch, zum Beispiel das Abhören von Telefonen und das Installieren von Wanzen in Privatwohnungen als „Bagatellen“ anzusehen. Meist waren die MfS-Maßnahmen „26 A“ und „26 B“ nur Teile fon umfassenden Repressions-, Zersetzungs- und Liquidierungsplänen bzw. -maßnahmen gegen unliebsame Bürger. In den „Richtlinien“ des MfS zur Durchführung von „aktiven Maßnahmen“ bei der „Bearbeitung von Operativen Vorgängen“ gegen politische Gegner der demokratischen Opposition im In- und Ausland wurden in der Sprache des Unmenschen Verbrechen geplant, die dann zur praktischen Umsetzung kamen. Es begann mit „Kleinigkeiten“ des Nervens, Störens und „Verunsicherns“, es endete mit Verhaftungen, Ausbürgerungen und zerstörten Biografien. Und es kamen auch Menschen zu Tode. Wann wird endlich zur Kenntnis genommen, was an Erfahrungen vorliegt und an Dokumenten entdeckt wurde?

Vor allem die rechtliche Beurteilung der Straftaten von hauptamtlichen MfS-Mitarbeitern kann nur aus der Kenntnis der gesamten Situation erfolgen, aus dem Sichten aller verfügbaren und mühsam erschlossenen Unterlagen. Und vor allem aus dem Anhören und Ernstnehmen der Berichte von Verfolgten und Opfern. Die geplante Verjährung zum 3. Oktober 1993 wäre der Anfang vom Ende einer Bewältigung der zweiten deutschen Diktatur mit demokratischen Mitteln. Nazi- und Stasiverbrechen dürfen aber nicht verjähren.

Wolf Biermann, Bärbel Bohley, Hans Christoph Buch, Jürgen Fuchs, Ralph Giordano, Katja Havemann, Freya Klier, Reiner Kunze, Ludwig Mehlhorn, Sebastian Pflugbeil, Lutz Rathenow, Jens Reich, Reinhard Schult und weitere 80 Personen