Ohne Phantasie ist Spielen kein Kinderspiel

■ Wenn Kinder in der Welt von Barbie, He-Man und Super-Mario aufwachsen

Kinderspiele sind ganz einfach: „Du bist der Himmel“, sagt der kleine Junge zu seiner Spielkameradin. „Und du bist auch der Himmel“, sagt er zum anderen Freund. „Ich bin eine Wolke und jetzt wird es regnen.“ Für die Kinder eine klare Sache, für Erwachsene mag es unlogisch klingen. Aber, so hat schon der österreichische Arzt Fritz Wittels in den zwanziger Jahren in seinem Buch „Die Befreiung des Kindes“ erkannt, es ist für Kinder beim Spielen ganz normal, sich in einen Baum oder eben in Wolke und Himmel zu verwandeln.

„Die Phantasie ist das allerwichtigste beim Spielen“, sagt der Kinder-und-Jugendlichen-Psychotherapeut Martin Harten. Besonders im Kleinkindalter, im „prälogischen Stadium“, spielt sie eine große Rolle für die seelische Entwicklung: Kinder brauchen phantastische Geschichten und Gestalten, so Harten, weil sie die Erwachsenen als sehr mächtig empfinden – durch ihre „Spinnereien“ aber entwickeln sie eine eigene Individualität und grenzen sich so ab.

Wenn Kinder im fortgeschrittenen Alter dann aber begreifen, daß sie zwar eine Wolke spielen können, sich aber nie in eine verwandeln werden – im Fachjargon heißt das „die Phantasie an der Realität abarbeiten“ – werden materielle Dinge, also Spielzeug, wichtiger. Immer dabei: der Teddy und die Puppe, aber auch das Nuckeltuch oder Lieblingskissen. So sagt Martin Harten: „Durch dieses erste Spielobjekt löst sich das Kind noch mehr von der Bezugsperson.“ Der Teddy sei ein positiver Ersatz für die Eltern.

Viel falsch machen können Eltern auch bei der Auswahl des Spielzeugs. In den Legobaustein- Packungen vor zwanzig Jahren, so erzählt der ehemalige Grundschullehrer Harten, hätte es nur die verschiedenen bunten Steine gegeben, mit denen das Kind mit eigener Phantasie ein Haus oder ein Auto bauen konnte. „Heute gibt es dagegen komplette Sets zum Fertigbauen mit konkreten Anleitungen“, bemängelt Harten. Damit hätten die Kindern kaum Möglichkeiten, die eigene Phantasie weiterzuentwickeln, denn der Spielverlauf sei zu vorprogrammiert.

Noch mehr nach dem Schema F ist das Spiel mit Computer und Game-Boy. „Hier gilt die Vorgabe, sich an den Spielverlauf und an die Fähigkeiten des Geräts total anzupassen, sonst steht man als Verlierer da“, beschreibt Martin Harten. Er mag nicht entscheiden, inwieweit Computerspiele sinnvoll sind oder der Entwicklung eines Kindes eher schaden. Maßstäbe, so glaubt er, gibt es nicht. „Das können Eltern nur individuell regeln.“ Wichtig sei es, auf den Druck zu achten, den Kinder in der Schule und auch schon im Kindergarten von MitschülerInnen ausgesetzt sind. Sein Rat: „Eltern sollten einem sehr labilen Kind die heißbegehrte Barbiepuppe oder den Game-Boy nicht verbieten, wenn es alle anderen auch haben.“ Ein Verbot könne bei schwächeren Kindern zu psychischen Schäden führen. – Es müssen also nicht nur das gewachste Holzschaukelpferd und die mit Pflanzenfarbe hergestellten Stifte sein. Auch das grellbunte, meist viel billigere Plastikspielzeug hat laut Martin Harten nicht nur Nachteile. „Kinder identifizieren sich sehr oft mit den kleinen Figürchen.“ Auch hier trete eine Stellvertreterfunktion ein. Beim Einkauf sollten die Eltern aber auf die richtige Auswahl für die jeweilige Altersstufe und auf ein gesundes Mittelmaß zwischen Plaste und Holz achten.

Sind die Sprößlinge dann mit dem altersgerechten Baukasten oder der neuesten Dinosaurierfigur ausgestattet, ist es sinnvoll, sie erst einmal sich selbst und ihren SpielkameradInnen zu überlassen. Eltern sollten nicht zu sehr in das Spiel eingreifen, warnt Martin Harten. Besser sei es, abzuwarten, ob die Kinder mit den Eltern spielen wollen. „Sie kommen schon von selbst und fordern zum Spielen auf“, weiß er aus Erfahrung. Das hat auch schon Fritz Wittels erkannt: „Der Grundgedanke ist einfach: Laßt eure Kinder in Ruhe. Erzieht sie nicht, denn ihr könnt sie nicht erziehen.“ Julia Naumann