Rache für Dürrenmatt

Von Auxerre mit dem Hausboot durchs Burgund – auf dem Canal du Nivernais  ■ Von Arno Luik und Herrn Thömmes

Knatsch gab es gleich hinter Auxerre. Wolf wollte Käpt'n sein. Davon hatte er immer geträumt. „Schleuse Nummer 80, backbord festmachen.“ Mit sicherer Stimme gab er Order an die Mannschaft.

Ein Magellan, ein Störtebeker!

Ein Peinsack.

„Oh, Befehl vom sogenannten Käpt'n“, hämte Franz, bösartig, aber geistesabwesend. Es gab Wichtigeres: den Wein, den er zum siebten Mal an diesem Tag sortierte. Was für Preziosen! Zärtlich wiegte er eine Flasche Burgunder im Arm, 82er Montagny 1er Cru, honigblond und funkelnd schön. Und nie würde der herrliche Stoff ausgehen auf dieser Reise. „Sogenannter Käpt'n“, krakeelte er aufs neue, „sogenannter Käpt'n. Wo haben wir denn Backbord heute, links oder rechts?“

Der, den sie Wolf nannten, und der doch so gerne Käpt'n heißen wollte, sagte nichts. Nur leises Nörgeln drang manchmal von Steuer- oder Backbord über die Reling, dumpfes Murren, Verzweiflung über die, die ihm den Platz nicht gönnten und seine Souveränität.

Vier Tage dieselte die „Connoisseur“ nun schon von Auxerre flußaufwärts. Wolf, dem die „liebliche Landschaft“ des Burgund überbordende Romantik ins Herz gepflanzt hatte, forderte von der Besatzung Ergriffenheit, aber subito! Was es doch nicht alles zu sehen, fühlen, spüren gab! 1a seidene Luft, blütenschweren Duft! Die Kapelle stand hoch am Hügel, der Landmann bestellte das Feld, ein graubärtiger Angler saß stumm wie seine Beute! Drüben grast das Vieh und...

...keiner brachte ihn zum Schweigen. Franz nicht, der sinnlos vergnügt über den Wein quiekte, und Anne nicht, die gebildet über die Landschaft blickte und mit den Kühen französisch sprach.

Monika, die ihre einssechzig auf dem Dach der vorderen Kabine räkelte, fingerte ihr Tigerhemdchen zurecht, hob schläfrig den Kopf und sprach aus, was ihr träumendes Hirn bewegte: „Scheiße.“ Zuviel Blätter auf dem Wasser. Sie sorgte sich um den Schiffsmotor wie keine Mutter um ihr Kind.

Eigentlich hatte ja doch alles an Bord recht schnell seine Ordnung gefunden. Monika war erste Maschinistin. Als einzige vermochte sie mit Schraubenzieher und anderem technischem Gerät nutzvoll zu hantieren.

Jeden Morgen das gleiche Bild, zwei Wochen lang. Monika wuchtete am Schiffsarsch eine Platte hoch und verschwand im dunklen Loch, und gelegentlich ertönte lustvolles Triumphgeheul. Dann schwang sie ihr frisch erlegtes Beutestück: verschmierte, verfilzte, verschlunzte Filter. Von deren Existenz die Restcrew soviel wissen wollte wie von einem Zinsfreibetragsfreistellungsformular.

„Schweizer!“ deklamierte Anne sinnlos erregt, „Schweizer“ und deutete auf ein weißes Großboot, das schnittig durch den Kanal pflügte. „Acht Stundenkilometer sind auf dieser Wasserstraße erlaubt!“ Wut kam auf. „Zu Hause schaltet der Eidgenosse an jeder Ampel den Motor aus und entsorgt penibelst jeden Deckel vom Joghurtbecher – aber auf französischen Kanälen lassen die Saubermänner die Sau raus.“

Käpt'n Wolf wurde hinterm Steuer militant. Er pumpte sich im Netzhemd auf: „Die versenk' ich. Mit einem Schweizer Präzisionstorpedo. Umweltfrevler, elende!“

Durch ein elegantes Manöver bremste er die Fahrt der Rüpel, doch der höheren PS-Zahl der Rücksichtslosen war kein Schilfkraut gewachsen. „Rache für Dürrenmatt“, knurrte verbittert der Käpt'n, voll Verständnis für den Aufklärer, der solchen Landsleuten erst durch den Tod fliehen konnte.

„Bei der nächsten Schleuse sehen wir uns wieder“, orakelte die rote Admiralin. Der Titel war Anne zugewachsen durch ihre Autorität und Haarfarbe. Anders als der gemeine plaisancier, der Vergnügungsschiffer, nahm sie das Verschleusen selbst in die Hand. Galionsfigurengleich ragte sie an der Bootsspitze auf, degradierte Wolf durch ein Stakkato von Befehlen wie „Maschine drosseln, fünf Grad backbord, Leinen bereit“ zum schieren Ruderknecht.

Der Käpt'n grollte regelmäßig. „Wer bin ich denn!?“

„Ein seemännisches Nichts“, höhnte Franz, „allenfalls ein Leichtmatrose.“ Das ständige Schlingern des Bootskörpers, klagte er heftig, versetzte seine Weinbestände in Unruhe. Noch ein Wackler, und er könne für die Qualität des Grand Cru „Les Preuses“ nicht länger garantieren.

Franz, der Smutje. Herr über 96 wohlsortierte Flaschen. Kein Gericht, für das er nicht mit kaum zu unterdrückendem Stolz die passende bouteille fände.

„Chablis zu den Linsen?“ fragte die Maschinistin mit wohliger Bosheit den Gatten. Schreckgeweitete Augen leuchten aus der Kombüse. „Der Rosé aus Irancy – und sonst keiner.“

Sie wollten ihn nicht verstehen. Hatte er je schlecht gekühlten Weißwein serviert? Führte er sie nicht in den mittäglichen Pausen, wenn die Schleusen geschlossen sind, auf den Rädern durch die umliegenden Rebhügel? Erklärte er nicht geduldig den Zusammenhang von Hektarerträgen und Rebschnitt, typischen Burgundertrauben und Einflüssen des Mikroklimas, Alterungspotential und dem grasigen, stachelbeerartigen Bukett des Sauvignon...?

„He, Küchenbulle“, unterbrach Monika die schweifenden Gedanken, „Arbeit ruft.“ Schleuse Nummer 57, bei ChÛtel Censoir. Schon war die Admiralin mit sicherem Tritt die eiserne Leiter hochgeklettert und wartete auf das Tau, um das Boot festzuzurren. Schon kurbelte sie beidhändig an der rechten Hälfte des oberen Schleusentors, schon parlierte sie sprachkundig mit der Wärterin dieser Schiffsheberei, die auf der anderen Seite die Kurbel wuchtete.

Später würde Anne ihrer Crew erzählen: Seit 32 Jahren lebte Elise hier in dieser Anlage, der ältesten auf dem Canal du Nivernais, mit ihrem System von stählernen Seilwinden und Drehkreuzen aus dem 18. Jahrhundert. Und sie wollte keinen elektrischen Firlefanz. Elise, die auch im Winter bei ihrer Schleuse blieb, wenn keine Touristen auf dem Wasser fahren – es könnte ja was kaputtgehen. Und wer, wenn nicht sie, sollte sich denn kümmern um das alten Häuschen und die rutschenden Böschungen und maroden Kanalwände. Kaputt und schön das alles und schwer gefährdet, weil die dort in Paris kein Geld mehr geben wollen und die Gemeinden hier keines haben.

„Was sie alles weiß“, jauchzte Wolf ergriffen und schaute beifallheischend um sich. Diese Frau teilte mit ihm das Leben! Rüde griff der Smutje dem von sich begeisterten Käpt'n ins Steuer. „Der rammt doch glatt 'ne Brücke!“ Sofortige Degradierung verlangte Franz, der Usurpator, der selbstverständlich Käpt'n sein wollte — sofort! „Leg das Ruder andern Weg“, verlangte er von Wolf, brachial und unerbittlich, und drängte ihn vom Sitz am Steuer.

Schon seit zwei Tagen überraschte der Smutje die Besatzung immer wieder mit ganz selbstverständlich hingeworfenen Begriffen wie „Fahrt aufnehmen!“ oder „An Luv vorbei“ oder „Längsseits“ oder „Sofort ankerauf gehen“. Es dauerte einige Zeit, bis entdeckt wurde, daß sein Seemannsjargon durch die nächtliche Lektüre von Joseph-Conrad-Erzählungen inspiriert war.

Nun erklärten sich auch Sätze wie „Ich habe beide Pforten hochlaschen lassen. Nehmen Sie einen Tampen und fieren Sie sich damit ins Wasser.“ Bisher hatten die anderen Bordmitglieder hinter solchen Worten unmäßiges Weinverkosten vermutet und nicht hohe Literatur.

Nebel überm Fluß. Acht Uhr morgens. Der degradierte Käpt'n radelte als nunmehr einfacher Matrose über den Treidelpfad nach Mailly le ChÛteau. Seine Mission, wie jeden Tag um diese Zeit: frisches Baguette.

Das Boot ankerte unterhalb der Rochers du Saussois, steil aufragende Felsen, Heimat des Greifs. Träge und still lag der Fluß in seinem Bett, durch das er seit Jahrhunderten mäandert. „Uuuk, uuuk.“ Rief dort der Kauz? Oder ein Fuchs, ein Rotbarsch gar? Dem Stadtmenschen gebrach es fast das Herz. Die Töne der Natur vermochte der kritische Rationalist nicht zu enträtseln.

War das hier nicht die große Freiheit? Was sollte der Ehrgeiz, die Eitelkeit, das närrische Gezänk um die Kapitänsmütze? Fahrt voraus hieß es doch eh nur noch eine, vielleicht zwei Stunden pro Tag. Selbst der überdrehte Zappelmotoriker geriet in wohlige Trance und war ab und zu still.

Nach seiner Rückkehr würde er das Schiffsdach aufkurbeln und den Frühstückstisch durch die Sonne erwärmen lassen, die sich ganz rot vor Anstrengung über die Felsen stemmte. Er würde den Kaffee riechen und einfach alles genießen, eins mit sich selbst, sanft im Gemüt und zart zumute ...

„Ey, Leute!“ schrie er in die beiden Kajüten, „aufstehen, klasse Ruhe hier.“ Sechs Tage würde das noch so gehen. Durch 64 Schleusen und 118 Kilometer weit würde die „Connoisseur“ dann gefahren sein.

Vorn stand die Admiralin wehenden Haars, hinten tauchte die Maschinistin im Gedärm des Motors, mittschiffs döste der Maat, ruhig führte der Smutje das Ruder – sanft glitt der Schiffsbauch in saugenden Schlamm. Mit pochendem Gebrumm zerquirlte die Schraube das Seerosengeflecht. Mürrisch beobachtete Milchvieh das Meucheln der Flora.

„Ha!“ Wolf war hellwach. „Ich wußt's, ein Dilettant am Volant. Ich habe es immer gewußt.“ Das Netzhemd drängte euphorisiert hinters Steuer. „Volle Kraft voraus!“ Ruhig und besserwisserisch korrigierte die Admiralin: „Volle Kraft zurück, du Simpel!“ Da ruckte und zuckte es, die braune Brühe spritzte, und unwillig gab der Morast mit leisem Schmatzen das Boot frei.

„Ach, es war eine aufregende, ermüdende, endlose Nacht, die wir unter dieser schwarzen Küste vor Anker verbrachten! Rund um das Schiff machte das aufgewühlte Wasser murrende Geräusche.“

Joseph Conrad