Auf die Frage: Was ist deutsch?

Ein Beitrag zur grassierenden Rede über nationale Identität  ■ Von Theodor Wiesengrund Adorno

„Was ist deutsch?“ – darauf vermag ich nicht unmittelbar zu antworten. Zuvor ist über die Frage selbst zu reflektieren. Belastet wird sie von jenen selbstgefälligen Definitionen, die als das spezifisch Deutsche unterstellen nicht, was es ist, sondern wie man es sich wünscht. Das Ideal muß zur Idealisierung herhalten. Bereits der puren Form nach frevelt die Frage an den unwiderruflichen Erfahrungen der letzten Dezennien. Sie verselbständigt die kollektive Wesenheit „deutsch“, von der dann ausgemacht werden soll, was sie charakterisiere. Die Bildung nationaler Kollektive jedoch, üblich in dem abscheulichen Kriegsjargon, der von dem Russen, dem Amerikaner, sicherlich auch dem Deutschen redet, gehorcht einem verdinglichenden, zur Erfahrung nicht recht fähigen Bewußtsein. Sie hält sich innerhalb jener Stereotypen, die von Denken gerade aufzulösen wären. Ungewiß, ob es etwas wie den Deutschen, oder das Deutsche, oder irgendein Ähnliches in anderen Nationen, überhaupt gibt. Das Wahre und Bessere in jedem Volk ist wohl vielmehr, was dem Kollektivsubjekt nicht sich einfügt, womöglich ihm widersteht. Dagegen befördert die Stereotypenbildung den kollektiven Narzißmus. Das, womit man sich identifiziert, die Essenz der Eigengruppe, wird unversehens zum Guten; die Fremdgruppe, die anderen, schlecht. Ebenso ergeht es dann, umgekehrt, dem Bild des Deutschen bei den anderen. Nachdem jedoch unterm Nationalsozialismus die Ideologie vom Vorrang des Kollektivsubjekts auf Kosten von jeglichem Individuellen das äußerste Unheil anrichtete, ist in Deutschland doppelt Grund, vorm Rückfall in die Stereotypie der Selbstbeweihräucherung sich zu hüten.

Während der letzten Jahre zeichnen Tendenzen eben dieser Art sich ab. Sie werden heraufbeschworen von den politischen Fragen der Wiedervereinigung, der Oder-Neiße-Linie, auch mancher Ansprüche der Vertriebenen; einen weiteren Vorwand bietet die nur in der Einbildung vorhandene internationale Ächtung des Deutschen, oder ein nicht minder fiktiver Mangel an jenem nationalen Selbstgefühl, das manche so gern wieder aufstacheln möchten. Unmerklich langsam formiert sich ein Klima, das verpönt, was am notwendigsten wäre: kritische Selbstbesinnung. Wieder bereits kann man das unselige Sprichwort vom Vogel zitiert hören, der das eigene Nest beschmutzt, während die, welche über jenen Vogel krächzen, die Krähen zu sein pflegen, die keiner anderen das Auge aushacken. Nicht wenige Fragen gibt es, über die ihre wahre Ansicht zu sagen fast alle mit Rücksicht auf die Folgen sich selbst verbieten. Rasch verselbständigt sich solche Rücksicht zu einer inneren Zensurinstanz, die schließlich nicht nur die Äußerung unbequemer Gedanken, sondern diese selbst verhindert. Weil die deutsche Einigung geschichtlich zu spät, prekär und unstabil nur gelang, neigt man dazu, um überhaupt als Nation sich zu fühlen, das Nationalbewußtsein zu überspielen und jede Abweichung gereizt zu ahnden. Dabei wird dann leicht regrediert auf archaische Zustände vorindividuellen Wesens, ein Stammesbewußtsein, an das psychologisch um so wirksamer appelliert werden kann, je weniger es mehr aktuell existiert. Jenen Regressionstendenzen sich zu entziehen, mündig zu werden, der eigenen geschichtlichen und gesellschaftlichen Situation und der internationalen ins Auge zu sehen, wäre gerade an denen, die auf deutsche Tradition sich berufen, die Kants. Sein Denken hat sein Zentrum im Begriff der Autonomie, der Selbstverantwortung des vernünftigen Individuums anstelle jener blinden Abhängigkeiten, deren eine die unreflektierte Vormacht des Nationalen ist. Nur im Einzelnen verwirklicht sich, Kant zufolge, das Allgemeine der Vernunft. Wollte man Kant als Kronzeugen deutscher Tradition sein Recht verschaffen, so bedeutete das die Verpflichtung, der kollektiven Hörigkeit und der Selbstvergötzung abzusagen. Freilich sind die, welche am lautesten Kant, Goethe oder Beethoven als deutsches Gut reklamieren, regelmäßig die, welche mit dem Gehalt von deren Werken am wenigsten zu schaffen haben. Sie verbuchen sie als Besitz, während, was sie lehrten und hervorbrachten, die Verwandlung in ein Besessenes verwehrt. Die deutsche Tradition wird verletzt von jenen, die sie zum gleichzeitig bewunderten und unverbindlichen Kulturgut neutralisieren. Wer indessen von der Verpflichtung jener Ideen nichts weiß, wird prompt von Empörung ergriffen, wo auch nur ein kritisches Wort fällt über einen großen Namen, den man als deutschen Markenartikel beschlagnahmen und verwerten möchte.

Damit ist nicht gesagt, daß die Stereotypen jeglicher Wahrheit entbehrten. Erinnert sei an die berühmteste Formel des deutschen kollektiven Narzißmus, die Wagnersche: deutsch sein heißt, eine Sache um ihrer selbst willen tun. [...]

Ist es schon wahr, daß ohne jenes „um seiner selbst willen“ zumindest die große deutsche Philosophie und die große deutsche Musik nicht hätten sein können – bedeutende Dichter der westlichen Länder haben der durchs Tauschprinzip verschandelten Welt nicht weniger widerstanden –, so ist das doch nicht die ganze Wahrheit. [...] Die großen deutschen Konzeptionen, in denen die Autonomie, das reine Um seiner selbst willen, so überschwenglich verherrlicht wird, waren durchweg auch zur Vergottung des Staates bereit; die Kritik der westlichen Länder hat darauf, ebenso einseitig, immer wieder insistiert. Der Vorrang des Kollektivinteresses über den individuellen Eigennutz war verkoppelt mit dem aggressiven politischen Potential des Angriffskriegs. Drang zu unendlicher Herrschaft begleitete die Unendlichkeit der Idee, das eine war nicht ohne das andere. Geschichte erweist sich daran, bis heute, als Schuldzusammenhang, daß die höchsten Produktivkräfte, die obersten Manifestationen des Geistes verschworen sind mit dem Schlimmsten. Noch dem Um seiner selbst willen ist, im unerbittlich integern Mangel an Rücksicht auf den anderen, auch Inhumanität nicht fremd. Sie offenbart sich in einer gewissen auftrumpfenden, nichts auslassenden Gewalttätigkeit gerade der größten geistigen Gebilde, ihrem Willen zur Herrschaft. Ausnahmslos fast bestätigen sie das Bestehende, weil es besteht. Wenn man etwas als spezifisch deutsch vermuten darf, dann ist es dies Ineinander des Großartigen, in keiner konventionell gesetzten Grenze sich Bescheidenden, mit dem Monströsen. Indem es die Grenzen überschreitet, möchte es zugleich unterjochen, so wie die idealistischen Philosophien und Kunstwerke nichts tolerierten, was nicht in dem gebietenden Bannkreis ihrer Identität aufging. Auch die Spannung dieser Momente ist keine Urgegebenheit, kein sogenannter Nationalcharakter. Die Wendung nach innen, das Hölderlinsche Tatenarm doch gedankenvoll, wie es in den authentischen Gebilden um die Wende des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts vorwaltet, hat die Kräfte gestaut und bis zur Explosion überhitzt, die dann zu spät sich realisieren wollten. Das Absolute schlug um ins absolute Entsetzen. Waren tatsächlich über lange Zeiträume der früheren bürgerlichen Geschichte hinweg die Maschen des zivilisatorischen Netzes – der Verbürgerlichung – in Deutschland nicht so eng gesponnen wie in den westlichen Ländern, so erhielt sich ein Vorrat unerfaßt naturhafter Kräfte. Er erzeugte ebenso den unbeirrten Radikalismus des Geistes wie die permanente Möglichkeit des Rückfalls. So wenig darum Hitler als Schicksal dem deutschen Nationalcharakter zuzuschreiben ist, so wenig zufällig war doch, daß er in Deutschland hinaufgelangte. Allein schon ohne den deutschen Ernst, der vom Pathos des Absoluten herrührt und ohne den das Beste nicht wäre, hätte Hitler nicht gedeihen können. In den westlichen Ländern, wo die Spielregeln der Gesellschaft den Massen tiefer eingesenkt sind, wäre er dem Lachen verfallen. Der heilige Ernst kann übergehen in den tierischen, der mit Hybris sich buchstäblich als Absolutes aufwirft und gegen alles wütet, was seinem Anspruch nicht sich fügt.

Solche Komplexität: jene Einsicht, daß an dem, was deutsch ist, das eine nicht ohne das andere sich haben läßt, entmutigt jede eindeutige Antwort auf die Frage. [...]

Der Entschluß zur Rückkehr nach Deutschland war kaum einfach vom subjektiven Bedürfnis, vom Heimweh, motiviert, so wenig ich es verleugne. Auch ein Objektives machte sich geltend. Das ist die Sprache. [...] Zumindest der geborene Deutsche wird fühlen, daß er das essentielle Moment der Darstellung, oder des Ausdrucks, in der fremden Sprache nicht voll sich erwerben kann. Schreibt man in einer ernsthaft fremden Sprache, so gerät man, eingestanden oder nicht, unter den Bann, sich mitzuteilen, es so zu sagen, daß die anderen es auch verstehen. In der eigenen Sprache jedoch darf man, wenn man nur die Sache so genau und kompromißlos sagt wie möglich, auch darauf hoffen, durch solche unnachgiebige Anstrengung verständlich zu werden. Für die Mitmenschen steht im Bereich der eigenen Sprache diese selbst ein. Ob der Tatbestand fürs Deutsche spezifisch ist, oder viel allgemeiner das Verhältnis zwischen jeweils eigener und fremder Sprache betrifft, wage ich nicht zu entscheiden. Doch spricht die Unmöglichkeit, nicht nur hoch ausgreifende spekulative Gedanken, sondern sogar einzelne recht genaue Begriffe wie den des Geistes, des Moments, der Erfahrung, mit all dem, was in ihnen auf deutsch mitschwingt, ohne Gewaltsamkeit in eine andere Sprache zu transponieren, für eine spezifische, objektive Eigenschaft der deutschen Sprache. Fraglos hat sie dafür auch ihren Preis zu zahlen in der immerwährenden Versuchung, daß der Schriftsteller wähnt, der immanente Hang ihrer Worte, mehr zu sagen, als sie sagen, mache es leichter und entbinde davon, dies Mehr zu denken und womöglich kritisch einzuschränken, anstatt mit ihm zu plätschern. Der Zurückkehrende, der die Naivetät zum Eigenen verloren hat, muß die innigste Beziehung zur eigenen Sprache vereinen mit unermüdlicher Wachsamkeit gegen allen Schwindel, den sie befördert; gegen den Glauben, das, was ich den metaphysischen Überschuß der deutschen Sprache nennen möchte, garantiere bereits die Wahrheit der von ihr nahegelegten Metaphysik, oder von Metaphysik überhaupt. [...] Der Begriff der Tiefe selbst ist nicht unreflektiert zu bejahen, nicht, wie die Philosophie es nennt, zu hypostasieren. Keiner, der deutsch schreibt und seine Gedanken von der deutschen Sprache durchtränkt weiß, dürfte die Kritik Nietzsches an jener Sphäre vergessen. In der Tradition war selbstgerechte deutsche Tiefe ominös einig mit dem Leiden und mit dessen Rechtfertigung. Darum hat man die Aufklärung als flach verketzert. Ist etwas noch tief, nämlich unzufrieden mit blind eingeschliffenen Vorstellungen, dann die Aufkündigung von jeglichem verdeckenden Einverständnis mit der Unabdingbarkeit des Leidens. Solidarität verwehrt seine Rechtfertigung. In der Treue zur Idee, daß, wie es ist, nicht das letzte sein solle – nicht in hoffnungslosen Versuchen, festzustellen, was das Deutsche nun einmal sei, ist der Sinn zu vermuten, den dieser Begriff noch behaupten mag: im Übergang zur Menschheit.

Mit freundlicher Genehmigung des Suhrkamp Verlags dem Band „Kulturkritik und Gesellschaft II“ (Gesammelte Schriften) entnommen.