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Fortsetzung der Ostpolitik mit anderen Rhythmen?

■ Rock goes Kriegsgräberfürsorge. Ein Bericht aus Warschau von Andreas Becker

Es beginnt wie im Lehrbuch Polnisch-Deutsch. „Meine erste Frage: Wie verlief die Anreise?“ Gosia Miszczak empfängt uns am Warschauer Zentralbahnhof. Sie arbeitet für „Ein Viertel Ameise“, die Organisation, die am nächsten Tag den polnischen Part des Konzertes „Warsaw-Berlin-2-Step“ veranstalten wird. Ein Konzert am Jahrestag des deutschen Überfalls auf Polen am 1. September 1939. Zehn Tage später werden drei der polnischen Bands und vier Berliner Combos zusammen in Berlin auftreten. Rock goes Kriegsgräberpflege?

Also Richtung Osten und immer geradeaus. Wir schliddern sechseinhalb Stunden mit dem EC Berolina von Berlin nach Warschau. Musiker, Journalisten, Veranstalter und Anhang sitzen in den Abteilen und beschnuppern sich. Ein Fotograf behauptet felsenfest, 1972 sei das Kochrezept für Heroin von Westberlin nach Warschau geschmuggelt worden. Daraufhin habe sich in der polnischen Hauptstadt eine rege Heroinküchenkultur entwickelt. Ich verlasse die Diskussion in Richtung des Abteils der zehnköpfigen Reisegruppe „Blechreiz“, die inzwischen das Spiel „Wer ist am vollsten?“ fortgesetzt hat. Die Bandmitglieder müssen rückwärts gegen die Fahrtrichtung des Zuges durch den Gang rennen und zurück. Wer stolpert oder in fremde Abteile fällt, bekommt Punkte abgezogen. Die Mitglieder von Blechreiz machen in ihrem Rausch das, was wir in den Abteilen tun: wir stemmen uns gegen die Richtung des Zuges, weil wir nicht wissen, was uns in Polen erwartet.

„Die ganze Stadt ist ein Friedhof.“ Ein junger Pole führt uns nachts um drei durch die Warschauer Altstadt. Kaum ein Mensch auf der Straße, ein Kellner kippt Aschenbecher aus. Die Altstadt ist nach 1945 komplett neu aufgebaut worden. Sie sollte der Beweis sein, daß Warschau lebt, obwohl seine Einwohner tot, die Häuser kaputt waren. Ein Kollege prustet bierseelig: „Alles ein Fake, alles Hollywood.“ Ein anderer lernt seit Monaten Polnisch und kann so für Momente unsere Sprache, einst die Sprache der Mörder, durch ein polnisches Danke oder Bitte ersetzen. Hilflos läuft man durch die Stille. Die Dolmetscherin will mitten in der Nacht in die Kirche, um sie uns zu zeigen. Die Tür ist verriegelt, früher sagt sie, früher hatten die Kirchen immer auf.

„Dafür sitzen sie heute in der Regierung.“ Das Konzertplakat sollte eigentlich für beide Veranstaltungen identisch sein. Nun aber sehen wir in Warschau statt Kreuz und Banane (wie in Berlin), Hammer und Banane auf rotem Grund. Die Warschauer Veranstalter hatten, wie es hieß, Angst, die Kirche würde sich von den Plakaten angegriffen fühlen und gegen das abgewandelte Symbol der Kommunisten intervenieren.

Als wir am nächsten Tag mit Kopfschmerzen im Hotel erwachen, ist der 1. September. Ein Konzert mit neun polnischen und Berliner Bands erwartet uns. Die Veranstalter vom „Polnischen Sozialrat“ in Berlin, normalerweise mit der Beratung der in Berlin wohnhaften Polen beschäftigt (mit einer halben ABM-Stelle), wollen demonstrieren, daß „zwei Schritte keine Entfernung sind. Warschau und Berlin sind sich viel näher, als viele es empfinden.“ Ein frommer Wunsch der Organisatoren – die finanziell vom Berliner Senat übrigens nicht gerade verwöhnt werden –, leider noch lange keine Realität.

So treffen deutsche und polnische Musiker und das Warschauer Publikum an einem Jahrestag zusammen, der vielen auf Nachfragen zunächst nichts sagt. Die zumeist sehr jungen Zuschauer im Park Agrykola nutzen die Sonnenstrahlen, um den ersten Schultag nach den Sommerferien zu feiern. Mit Kriegen und ihrer Bewältigung haben sie wenig am Hut. Sie wollen ihre Lieblingsbands sehen, und genau die spielen hier, umsonst und draußen: Hey, T'Love, Kult, VooVoo.

Dem deutschen Zuschauer sind die polnischen Bands weitgehend unbekannt. Den Warschauer Schülern wiederum, die freakig aussehen wie ihre Altersgenossen in Amsterdam, Prag, Berlin, sind die Berliner Bands allerdings auch unbekannt. Sie quetschen sich an den Zaun, um ein Autogramm von der Sängerin der Band Hey zu bekommen. Einige freuen sich auch auf Kult, eine Band, die bereits seit 1982 besteht und die trotzdem ihren Underground-Status, zumindest bei Älteren, noch nicht verloren hat.

Kult-Sänger Kazik Staszewski sagt mir im Gespräch, er sei kein Anarchist, aber gegen die alte und die neue Regierung. „Früher regierte die Geheimpolizei, heute das Geld.“ Viele der etwa 15.000 Zuschauer kennen Kaziks Texte auswendig und singen sie mit. Und dann wird es völlig absurd: vor uns stehen Ordner, die aussehen, als hätten sie gerade Hafturlaub. Sie zeigen auf Jugendliche, die ihnen zu hart Pogo tanzen, stürzen sich zu dritt auf sie, ziehen sie über die Bühnenabsperrung und treten einzelne hinter der Bühne zusammen. Später singt die Menge mit Kazik das Lied Polska: „Polen, ich wohne in Polen. Nachmittägliche Konzerte voll gehirnloser Sicherheitsdienstler – sie lieben es zu schlagen, mehr und mehr.“

Den Veranstaltern ist der Auftritt der brutalen Ordner sichtbar unangenehm, andere aber gebe es in Polen nicht. Die Pogo-Tänzer seien Skins gewesen, beim Festival in Jarocin, dem größten Polens, hätten sie in diesem Jahr die Bühne angesteckt. Deshalb läßt man sich jetzt quasi von Schlägern vor Schlägern schützen. Das subversive Potential der Rockmusik, so es denn überhaupt noch existiert, stachelt also auch in Polen nur noch die zur Revolte an, die gleichzeitig deren reaktionäre Uminterpretation vollziehen? Rostock in Warschau?

„Polnische Faschos? Absurd!“ So faßt nach dem Konzert der Trompeter Marcus Renner von der Berliner Skaband Blechreiz seine Eindrücke zusammen. Die Band hat ihre Erfahrung mit Fascho-Skins, locken doch ihre Konzerte immer noch einige Deppen an, die nicht verstehen, daß die Skins von Blechreiz alles andere als Rassisten sind. Blechreiz schaffen es als erste Band in Warschau, die Distanz zwischen Publikum und Musikern auch körperlich zu überwinden. Sie rennen mit ihren schnurlosen Mikros an den Ordnern vorbei nach vorn, begrüßen das Publikum per Handschlag. Die Leute klatschen, als der Sänger etwas von Deutsch-Polnischer Verständigung ins Mikro ruft.

Die (auch von mir) hochgelobten Inchtabokatables versuchen den deutsch-polnischen Spagat mit einem auf polnisch gesungenen Schlaflied. Eine schöne Geste, nur verpufft ihre Musik dahinter. Die Inchies haben in Warschau nicht mehr zu bieten als eine ziemlich gewöhnliche Rockband. Nur daß sie eben Gitarre und Baß durch Geige und Cello ersetzen. Sie pflegen ihr folkig-freakiges Image – immerhin haben ihre Gründer jahrelang beim Mittelalterspektakel im Ostberliner Lustgarten Erfahrungen gesammelt, wie man sich als Barde am Holzfeuer aufzuführen hat.

Da sind mir die polnischen VooVoo schon viel lieber, die wenigstens versuchen, nicht alles unter dem 4/4-Hammer zu zerkloppen. Während VooVoo noch spielen, beginnt das angekündigte Feuerwerk. Jede Rakete wird bejubelt. Danach Stille.

„Ich habe keinen polnischen Musiker kennengelernt“, sagt mir später enttäuscht jemand von Blechreiz. Die zweite Chance dazu besteht heute abend.

Warsaw-Berlin-2-Step, Samstag 11.9., 20 Uhr, Die Halle, Berlin- Weißensee. Mit den Bands: Kult, T'Love, VooVoo, X.I.D, Michele Baresi, Blechreiz und Inchtabokatables. Karten kosten 24 DM. Also auf! Verstärkter Straßenbahn- und Nachtbuseinsatz von und nach Weißensee.

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