Träume contra Realität

■ Am Wochenende: Gewerkschafter demonstrierten gegen Sozialabbau, Natur-schützer für die Natur, die Parteien für sich selbst   Von E. Proppe und U. Exner

Sonnabendmorgen in Hamburg, acht Tage vor den Neuwahlen zur Bürgerschaft. Parteien, Organisationen, Verbände bemühen sich, Versäumtes, Vernachlässigtes, noch nicht Verstandenes nachzuholen, Kundgebungen, Demonstrationen, Info-Tische an den Straßenrändern der Innenstadt.

„Ich bin befördert worden,“ berichtet der SPD-Bürgerschaftsabgeordnete Jan Klarmann, der mit Parteichef Frahm auf der Mönckebergstraße Dienst schiebt, „zum Oberarschloch.“ Gewohnte Pöbeleien. „Ich hab' mich für die Beförderung bedankt,“ sagt Klarmann und wendet sich der nächsten Passantin zu. „Was wollen sie in Ottensen tun“, fragt die etwas zu stark geschminkte Dame und rappelt los, „dieser Dreck, diese Verwahrlosung, die Punker, die Ausländer...“.

„Im Gegensatz zu Schadstoffen reichern sich politische Erfahrungen im menschlichen Körper nicht an“, leitet die Kabarettgruppe „Alma Hoppe“ die Kundgebung am Alsteranleger ein. Ursula Engelen-Kefer dagegen, stellvertretende Bundesvorsitzende des DGB, müht sich, den Gegenbeweis anzutreten. Auch MinisterInnen und Selbständige, die bisher keine Mark zahlen mußten, sollen zum Aufbau des Arbeitsmarktes im Osten herangezogen werden, fordert die forsche Gewerkschafterin und wettert gen Bonn. Höchstens 1000 Menschen haben ihr zugehört.

Das sind wesentlich mehr als auf dem Gänsemarkt, wo die Hamburger CDU als vorläufigen Höhepunkt ihres Wahlkampfs eine „bunte Meile“ aufgebaut hat. Kinderspiele, Thüringer Bratwurst, ein Stand der Jungen Union, an dem sich WählerIn die „Politikverdrossenheit herunterspülen“ soll. Die wackeren Jungunionisten machen dabei allerdings eher den Eindruck, als könnten sie demnächst selbst zu ihren besten Kunden werden. Enttäuschung über den schlappen Wahlkampf ihres Spitzenkandidaten Dirk Fischer. Bis zum Abend des 19. September werde man noch stillhalten, „aber dann ...“.

Auch auf der DGB-Kundgebung schaut man derweil in die Zukunft. Renate Schmidt, Vorsitzende der bayerischen SPD, träumt von besseren Politik-Tagen: Die Arbeitgeberverbände stellen fest, daß sie genug verdient haben. Bank- und Kreditinstitute haben keine Lust mehr auf den Geldtransfer ins Ausland. Haus- und Grundbesitzerverbände vereinbaren, daß sie mehr Wohnraum für Kinder schaffen werden. „In meinem Traum gab es eine Regierung, die dies umgesetzt hat. Dann wachte ich auf“.

Vielleicht hat Schmidt ja noch die Demonstration des Naturschutzbunds gesehen. 100 Menschen, die Folgendes berichteten: Mutter Natur habe ihnen im Vertrauen geflüstert, daß sie nicht noch einmal – wie damals beim Bau des Rathauses – diesem die Eichenpfähle schenken würde, auf denen es steht. Der Bausenator habe sie enttäuscht: Er habe 1989 in der größten Wohnungsnot auf ihren grünen Wiesen und in ihren Mooren Neubauten hochgezogen, ohne ihr, wie es das Hamburger Naturschutzgesetz vorsieht, dafür an anderer Stelle neue Naturschutzgebiete zu geben. Und wenn der Hafenschlick – Giftmüll also – vom Senat weiterhin als Wirtschaftsgut bezeichnet und ihr auf die Wiese gelegt werde, dann habe sie, die Natur, nur noch einen Wunsch: noch einmal einen Blick auf das Hamburger Rathaus zu werfen und dann das Leben auszuhauchen.

Doch, sagt Henning Voscherau nach zwei Wahlkampfauftritten in Steilshoop und am Osdorfer Born, „die Stimmung beginnt sich zu drehen“. Die Menschen grüßten ihn wieder von selbst. Begründeter Optimismus?