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Nachschlag

■ Cora Stephan in der Kulturbrauerei

Bärbel Bohley hätte mit Sicherheit wieder losgeheult, Norbert Blüm hätte sein entrüstetes Gesicht aufgesetzt, Rita Süssmuth wäre das ewige Grinsen eingefroren – hätten sie am Freitag abend in der Kulturbrauerei gesessen. Dort las Cora Stephan aus ihrem neuen Buch: „Der Betroffenheitskult. Eine neue politische Sittengeschichte der Bundesrepublik“. Es wird hoffentlich Betroffenheit und Ärger provozieren, denn hier bekommen die hauptamtlichen guten Menschen, die edlen Seelen Germanias, endlich einmal gesagt, was man von ihnen zu halten hat. Besonders in deren „inneren Werten“ sieht Cora Stephan mit Recht eine Gefahr für die Demokratie: Wie nirgends sonst wabert hier das Ressentiment gegen Regeln, Kontrollmechanismen und all dem „westlichen Plunder“, der uns nun einmal gestattet, möglichst leidlich zusammenleben zu können. Beim vorvorgestrigen Publikum war kein Protest zu vernehmen, aber es bleibt abzuwarten, wie die breite Öffentlichkeit darauf reagieren wird; schließlich ist die These, daß wir uns alle weniger lieben als vielmehr tolerant ertragen lernen müßten, viel zu rational, als daß sie in diesem Land auf Verständnis hoffen dürfte.

Auch ihre Kritik am grassierenden Minoritätenkult als Abart deutschen Heimat- und Brauchtums wird kaum auf Gegenliebe stoßen. Wie zur Illustration ihrer spöttischen Bemerkungen war an den Wänden der Kulturbrauerei auf einem Plakat unter anderem zu lesen: „Etatkürzungen des Berliner Senats für lesbische und schwule Projekte in Berlin haben exemplarischen Charakter fürs ganze Land. Wehret den Anfängen!“ Daß bei der berechtigten Kritik an einer bürokratischen Entscheidung immerhin nur das „ganze Land“ und nicht mehr gleich „unsere Mutter, die Erde“ bemüht wurde, scheint aber auch hier für ein zaghaftes Umdenken zu sprechen; hoffentlich nur wehret man diesen Anfängen nicht allzusehr.

„Wesensschau statt Problemlösung“ bescheinigt Cora Stephan der gegenwärtigen Politik, „wo es nichts zu entscheiden gibt, bleibt nur der Rekurs auf die moralische Wertung“, alle Erwartungen setzend auf „die völlig unpolitische Tugend der Ehrlichkeit“. Sachlichkeit wird so „zur uneigentlichen Sekundärtugend“, gerade passend für ein Land mit „viel Gefühl und wenig Benehmen“. Besonders für unsere MitbürgerInnen aus den fünf teuren Ländern, würden sie denn derartiges lesen, wäre es interessant, was Cora Stephan im Verweis auf Richard Sennett über „Gemeinschaftskult und die Tyrannei der Nähe“ schrieb, beides Elemente unzivilisierten Hordentums, die das Gemetzel untereinander geradezu provozieren. Distanz und Höflichkeit, am Freitag bestand Cora Stephan selbst auch die Probe aufs Exempel: Die mitunter saudämlichen Zuschauerfragen ertrug sie mit bewundernswerter Noblesse. Marko Martin

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