■ Stadtmitte
: Der erste Arbeitsmarkt ist zu klein

Die gemeldete Arbeitslosigkeit wird Ende des Jahres die Vier-Millionen-Marge überschreiten. Hinzu kommen zwei Millionen Personen in der „stillen Reserve“ oder in „arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen“. Im nächsten Aufschwung wird in West und Ost ein Rationalisierungsschub erwartet, im Westen dazu ein schwaches Wachstum. So wird der Aufschwung am Arbeitsmarkt vorbeirauschen, und die Arbeitslosigkeit verharrt, so die Prognos AG, mindestens bis zum Ende des Jahrzehnts auf dem jetzigen Niveau.

Längst ist Vollbeschäftigung zu einer nostalgischen Utopie geworden. Privatwirtschaft und öffentlicher Dienst sind mit ihren regulären Arbeitsmärkten bei regulären Arbeitszeiten nicht in der Lage, mehr als rund 35 Millionen Arbeitsplätze zu schaffen. Trotz großer und unbestrittener Bedarfe, vor allem im Sozialbereich, in der Kultur, dem Umweltschutz sowie dem Bildungsbereich – sechs Millionen Erwerbspersonen sind scheinbar überflüssig.

Die Gesellschaft, die sich diese traurige Groteske leistet, muß reich und dumm sein. Sie leistet sich die Vergeudung von menschlichen Ressourcen und enormen Finanzmitteln.

Die meisten Regierenden, und nicht nur die, sperren sich, einzugestehen, daß der reguläre Arbeitsmarkt auf unabsehbar lange Sicht zu klein ist. Das real existierende ökonomische System ist einfach nicht vollbeschäftigungsfähig.

Was nicht sein darf, kann nicht wahr sein. So glauben sie einfach an den ersten Arbeitsmarkt und dessen imaginäres Wachstum. Wunschdenken und Wegschauen: So funktioniert nach der ökonomischen die mentale Verdrängung.

Gewiß, vieles ließe sich im ersten Sektor tun: Industrie- und Strukturpolitik, vor allem Arbeitszeitverkürzungen zur Verteilung vorhandener regulärer Arbeit auf mehr Hände und Köpfe, und manches andere mehr. Dennoch – der erste Arbeitsmarkt ist einfach zu klein.

In den neuen Bundesländern wurde unter dem Druck der Not, wenn auch chaotisch, aktive Arbeitsmarktpolitik praktiziert wie nie zuvor im Westen. Im vergangenen Jahr kamen beispielsweise im Ostteil Berlins auf 100 registrierte Arbeitslose 120 Menschen in arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen (im Westteil nur 21 Personen): Vorruhestand, ABM, Fortbildung, Umschulung und so weiter.

Gewiß, verdeckte Arbeitslosigkeit, aber auch verdeckte Beschäftigung, manchmal sinnvoller als reguläre. Das kam letztendlich kaum teurer als das Zahlen von Arbeitslosenunterstützungen, aber es war viel besser. Bundesweit waren das im vergangenen Jahr immerhin zwei Millionen Personen, ungefähr zweieinhalbmal soviel wie die Beschäftigung in der Automobilindustrie.

Jetzt wird das, was man plakativ den zweiten Arbeitsmarkt genannt hat, mit fiskalischer Gewalt eingeschmolzen. Mühsam begonnene Projekte sterben. Der zweite Arbeitsmarkt soll nicht sein. Der Bund will sparen, die Lohnnebenkosten via Arbeitslosenbeiträge nicht erhöhen, die Länder zur Kasse bitten, wohl wissend, daß sie nicht können. Die Alternative wäre, diesen Ersatzarbeitsmarkt neu zu ordnen und auszubauen, nicht als kurzfristige Brücke, sondern auf längere Sicht.

Ein großer, gemeinnütziger Sektor, in dem Erwerbslose sinnvolle Arbeit leisten, auf der Basis von Freiwilligkeit, nicht in Konkurrenz, sondern in Kooperation mit regulären Firmen und Verwaltungen. Arbeitslosigkeit würde in Beschäftigungskreativität umgeformt. Wie im Hauptarbeitsmarkt müßte für Lohn Leistung eingefordert werden. Möglichst viele sollten die Chance erhalten, in die regulären Arbeitsmärkte wieder eingeschleust zu werden.

Manche können sich einen zweiten Arbeitsmarkt nur als eine Art Arbeitsdienst oder Pflicht zur Arbeit mit Niedriglöhnen und Rechtlosigkeit der Arbeitenden vorstellen. Das wäre die reaktionäre Perversion einer guten Idee. Jan Priewe

Der Autor ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Fachhochschule für Technik und Wirtschaft in Karlshorst.