Zwischen den Rillen
: Hausaufgaben

■ Die „Wittener Tage für Neue Kammermusik“ als Festival-Sampler

Unter den Neue-Musik-Festival-Machern gibt es eine neue Mode: den Festival-Sampler; jedes Jahr eine neue Dokumentations-CD. Ob sich damit die reisenden Horden Neue-Musik-Liebhaber zukünftig in der Ruhe und Gemütlichkeit der eigenen vier Wände hörenderweise zurücklehnen, anstatt Bundesautobahnen oder Züge und Flugzeuge zu füllen, oder die Konserven eher zu bedächtigem Nachhören des eben noch selbst Erlebten verführen werden, wird sich zeigen müssen. Die „Wittener Tage für Neue Kammermusik“ jedenfalls beteiligen sich kräftig an dem Reigen und haben nunmehr bereits den dritten Sampler in Folge, diesmal des Jahrgangs 1992, herausgebracht.

Auf der ersten der zwei CDs gibt sich die Freiburger Komponistenszene ein Stelldichein. Die seit geraumer Zeit in Deutschland lebende Koreanerin Younghi Pagh-Paan arbeitet in ihrem Stück für kleines Ensemble „U-Mul“, auf deutsch soviel wie „Der Brunnen“, mit asiatisch eingefärbter Perkussion und tonhöhenschwankenden Melismen zu vereinfachter melodischer Gestik – kontrapunktisch verwoben. Der Brunnen ist als Sinnbild lebensspendender Kraft dem Taoismus entlehnt, was erst einmal fremd klingt, sich aber überzeugend in einer selten anzutreffenden, nie schlaffen Gelassenheit der Musik umsetzt.

Mathias Spahlingers „furioso“, dessen Titel als doppeldeutige Andeutung – eine meint irgendeine Verwendung des Wortes „Furie“ durch Hegel, die zweite hat zumindest nichts, wie man meinen könnte, mit Wut zu tun – verstanden werden will, wird in weitschweifender Erklärung als „negative Musik“ angepriesen. Seine selbstgestellte Aufgabe, so ich den Begleittext recht verstanden habe, war, eine unordentliche Musik zu schreiben und dann zu schauen, was für eine Ordnung dabei herauskommt. Für zwanzig Minuten ist das Ergebnis dann aber leider mager, fällt weit hinter Spahlingers herausragende frühere Stücke zurück, bröselt mit hohler großer Geste im Zweite-Wiener-Schule-Stil vor sich hin.

Günter Steinke steuert eine elfminütige Komposition für Cello und Elektronik bei, die trotz fleißiger Verwendung diverser geräuschhafter Spieltechniken nicht über die Solo-Cello- Klassiker „Nomos Alpha“ von Xenakis oder „Pression“ von Lachenmann hinauskommt, aber doch vielversprechend auf weitere Taten dieses jungen Tonsetzers gespannt sein läßt.

Sieben Minuten Frank-Martin Olbrisch, recht eigentliche Arpeggio-Musik, aus rauf- und runterrasenden Skalen zusammengepuzzelt, hinter denen irgendeine tiefere Theorie steht, die man leider nicht hört. Ferneyhoughs viertes Streichquartett aus siebzehn, bereits durch Schönbergs Musik völlig überflüssigen Minuten bestehend, vervollständigen die erste Scheibe.

Auf der zweiten CD gibt es verschiedene Lösungen ebensolcher Tonschöpfer der gleichen hübschen Kompositionshausaufgabe: John Cages „variations“, eine zufallsbedingte Folienwurf- Komposition, durften Adriana Hölsky, Jakob Ullmann, Wolfgang Rihm und Nikolaus Huber, jeder auf seine eigene Weise, verarbeiten. „Cover-Version“ würde sich das in der Popmusik wohl nennen. Riehm hat sich am elegantesten aus der Affäre gezogen, indem er in einem Brief beschrieb, daß und wie er die Folien selber zum Klingen, besser: zum Rascheln und Knistern brächte. Warum er den Auftrag ablehnte, ist allerdings im Faksimile nicht mit abgedruckt.

Adriane Hölsky hingegen hat ein feines eigenes Stück mit wenig verwendeter Vorlage daraus gemacht, montiert konträre, immer länger werdende Passagen aneinander, forciert die Verwendung manchmal fast allzu virtuoser, metallischer Perkussion. Überzeugend ist diese Klangkomposition mit ihrer Bevorzugung extremer Lagen und klarer Durchsichtigkeit bei mitunter geradezu beklemmender Atmosphäre allemal. Nikolaus Huber schrieb einfach sein eigenes Stück – und ignoriert die Aufgabe völlig, kann mit Cage wohl ohnehin wenig anfangen, wohingegen Jakob Ullmann sich in großer Bescheidenheit gleich selber aus dem Titel radiert, dafür aber das Ensemble entscheiden läßt, was es gern an Klängen spielen möchte.

Selbiges tut das eifrig und bietet alles auf, was es an zeitgenössischen Klang-Klischees so zu bieten hat. Jeder Musiker spielt sein Schönstes möglichst innig und ausdrucksstark, und so ersticken ganz nebenbei und unbemerkt Cages herrlich luftige Zufallsideen an deutsch-expressiver Gründlichkeit. Der mag derlei vorausgeahnt haben, ließ er sich doch einst zu dem bekenntnishaften Wortspiel „pour les oiseaux, pas pour les cages!“ hinreißen, wobei „cages“ sicherlich nicht nur „Käfige“ meinte, sondern bereits all die kleinen Nachfolge- „Cages“ bedachte.

Erfrischend sticht da zwischen all den tiefsinnigen Musiken die spritzig- bis witzig-pointierte Improvisation des Trios Georg Katzer (Live-Elektronik) / Wolfgang Fuchs (Klarinette und Saxophon) / Johannes Bauer (Posaune) mit stellenweise geradezu blindem Verständnis der Musiker hervor, lächelt verschmitzt per selbstverständlichster Verwendung avanciertester Techniken und unorthodoxer Klänge über die manchmal allzu ernsten Kollegen.

Insgesamt ein Sampler, der nicht nur Einblick in den deutschen Neue-Musik-Bundesliga- Alltag erlaubt, sondern dessen überzeugendste Musik, die Stücke von Hölsky und Pag-Paan, bezeichnenderweise von zwei Komponistinnen stammt. Und zudem für dreißig Mark mehr als erschwinglich ist. Fred Freytag

Dokumentation „Wittener Tage für Neue Kammermusik 1992“, Doppel-CD, zu beziehen über Kulturamt der Stadt Witten, Bergerstr. 25, 58452 Witten; Tel: 02302 / 58 12 427