Verfassungsrichter aus Leidenschaft

■ Betr.: Ernst Gottfried Mahrenholz

Wie ein Richter auf Abruf wirkt Ernst Gottfried Mahrenholz nicht gerade. Dabei wollte der scheidende Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts seinen Ruhestand diesen Sommer bereits mit ausgedehnten Wanderungen im Elsaß feiern. Daraus wurde bekanntlich nichts. Seine reguläre Amtszeit, die am 6. Juli dieses Jahres endete, verlängert sich auf unbestimmte Zeit – bis die Sozialdemokraten Herta Däubler-Gmelin als seine Nachfolgerin durchgesetzt oder eine, den Christdemokraten genehmere, Kandidatin präsentiert haben werden. Das kann dauern. Bis dahin bleibt er Richter in Karlsruhe, und so begeistert er von seinen erst einmal aufgeschobenen Pensionärsplänen erzählt – den Eindruck, er sei seines Amtes müde, macht er nicht. Mahrenholz ist Verfassungsrichter aus Leidenschaft.

Geboren am 18. Juni 1929 in Göttingen, studierte er Rechtswissenschaften, anfangs auch Theologie und Philosophie, und promovierte mit einer Arbeit über die Wahlgleichheit im parlamentarischen Parteienstaat. 1950 trat er mit 21 Jahren der SPD bei und begann seine Karriere als persönlicher Referent des niedersächsischen Ministerpräsidenten Hinrich Wilhelm Kopf. Von 1965 bis 1970 leitete er das NDR- Funkhaus in Hannover, anschließend war er Staatssekretär in der niedersächsischen Staatskanzlei und von 1974 bis 1976 Kultusminister in Niedersachsen. Auch jenseits von Politik und Justiz erfreut sich Mahrenholz hoher Anerkennung: Für seine Beratung bei der Neufassung des Konkordats mit dem Heiligen Stuhl wurde er von Papst Paul VI. zum Ritter des Ordens vom Heiligen Sylvester ernannt.

1981 wurde Mahrenholz, auf Vorschlag der SPD, zum Richter am Bundesverfassungsgericht gewählt. 1987 übernahm er als Nachfolger von Wolfgang Zeidler den Vorsitz des zweiten Senates und kurz darauf den Posten des Vizepräsidenten.

Die Karlsruher Machtfülle – „das Gericht steht in der autoritativen Auslegung der Verfassung über den gewählten Abgeordneten“ – versucht Mahrenholz erst gar nicht kleinzureden. Dennoch, daß die Macht des Gerichtes ständig wächst, weil die Politik es versäumt, die Verfassung auf die neue Wirklichkeit zuzuschreiben, und deshalb die zentralen politischen Streitfälle in Karlsruhe entschieden werden, will Mahrenholz so nicht stehenlassen. Doch mit seinen Zweifeln an der Bonner Kompromiß- und damit Politikfähigkeit hält er nicht hinterm Berg: „Zuviel Taktieren und Finassieren“.

Mahrenholz gilt als „Linker“, die FAZ qualifizierte ihn schon mal als „intellektuellen Rigoristen“. Dieses Etikett hat er sich mit mehreren abweichenden Voten zu spektakulären Entscheidungen des Gerichtes – so jüngst zum Paragraph-218-Urteil – eingehandelt. 1984 widersprach Mahrenholz der Mehrheitsauffassung des Senates, der die Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen nicht an die Zustimmung des Bundestages gebunden sah. Auch bei der Ablehnung einer einstweiligen Anordnung gegen die Beteiligung deutscher Soldaten an den Awacs- Flügen votierte Mahrenholz gegen die Mehrheit.

Im zweiten Senat entschieden werden im Laufe des kommenden Jahres die Klagen zum Adria- Einsatz der Bundesmarine, zu den Awacs-Flügen über Bosnien und zum Somalia-Einsatz. Anhängig sind weiter die Klagen von Manfred Brunner und von Grünen-Europaabgeordneten gegen den Vertrag von Maastricht. Urteilen wird der zweite Senat außerdem über die Behandlung der früheren DDR-Spione. Und irgendwann zwischen diesen hochbrisanten politischen Streitfällen entscheidet das Gericht auch noch darüber, ob die strafrechtliche Verfolgung von Haschischrauchern mit dem Grundgesetz vereinbar ist – auch kein schlechter Anlaß für ein Sondervotum.