„Wir entscheiden nicht über die Qualität der Politik“

■ Ernst Gottfried Mahrenholz, scheidender Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts, sieht in der fehlenden Einigungsfähigkeit der Politik eine schwere Belastung für die Gesellschaft

taz: Herr Mahrenholz, Sie arbeiten in einer Institution, deren Macht seit 1989 von Jahr zu Jahr zunimmt. Ist Ihnen das unheimlich?

Ernst Gottfried Mahrenholz: Daß mir gelegentlich die Macht des Gerichtes unheimlich war und immer wieder wird, gebe ich zu. Denn es gibt keine Institution in Deutschland, die direkt auf Politik und Rechtsordnung einwirkt, die Beschlüsse faßt, die die Bürger unmittelbar in allen Lebensbereichen betreffen, und die zugleich so unabhängig von Kritik und Kontrolle ist wie das Bundesverfassungsgericht. Über uns lacht der blaue Himmel. Daß sich gegenüber 89 etwas verändert hat – ich denke da an die drei außenpolitischen Streitfragen, die uns zur Entscheidung vorliegen –, ist wohl wahr; das könnte den Anschein erwecken, als hätten wir, wie einige Karikaturen es nahelegen, zeitweise die Regierungsgewalt übernommen. Ich halte das dennoch für Unsinn. Daß eine nicht im einzelnen klare Entscheidung des Grundgesetzes über den Einsatz des Militärs diese Fragen vor das Verfassungsgericht bringt, war vorauszusehen.

Somit präjudiziert das Bundesverfassungsgericht mit seiner Entscheidung eine grundsätzliche außenpolitische Weichenstellung ...

... die die Politik treffen muß und die wir in bezug auf die Güte nicht beurteilen. Die zentrale Frage, gute Politik oder schlechte Politik, wird von uns nicht ins Auge gefaßt. Wir können nur fragen: Politik im Rahmen der Verfassung oder nicht.

Das Versäumnis der Politik, die Verfassung auf die neue Zeit zuzuschreiben, provoziert jetzt den Gang nach Karlsruhe. Dort sollen militärische Einsätze ermöglicht werden, die vor 1989 außerhalb des politischen Horizontes lagen und die nach dem bisherigen Konsens für verfassungswidrig gehalten wurden. Der Konsens ist gebrochen. Jetzt soll das Gericht die Verfassung interpretierend verändern, die die Politik nicht verändert hat.

Wir interpretieren die Verfassung, das hoffen wir zumindest. Was man uns gelegentlich vorwirft, ist, wir würden sie nicht mehr auslegen, sondern verändern ...

.. also Politik machen?

Politik machen wir so oder so. Aber es ist die Frage, ob wir Politik machen in der Auslegung des Grundgesetzes oder indem wir das Grundgesetz modeln, wie es diesen acht Richtern gefällt. Und da nehmen wir für uns schon in Anspruch, uns auf die Auslegung des Grundgesetzes zu beschränken – selbstverständlich unter Verarbeitung der Entwicklung einer Gesellschaft und ihrer geistigen Strömungen. Aber dieses Problem hat der Mietrichter im Amtsgericht Schöneberg genauso ...

... mit nicht ganz so weitreichenden Folgen. Es scheint, als gerate mit der wachsenden Bedeutung des Gerichtes die Gewaltenteilung außer Balance.

Dies ist der Unterschied zum Amtsgericht Schöneberg: Wir gehören in der autoritativen Auslegung der Verfassung nicht zu den drei Gewalten, sondern stehen insofern über ihnen.

Weil die Politik ihr Recht nicht wahrgenommen hat, die Verfassung auf die neue Zeit hin zu verändern, sind Sie, die Sie über den Gewalten stehen, wichtiger geworden. Faktisch schreibt jetzt das Gericht an der Verfassung.

Sie beziehen das auf den Militäreinsatz. Angenommen, Regierung und Opposition können sich in dieser Frage nicht einigen, dann müssen wir die drei anhängigen Klagen – Adria, Awacs, Somalia – entscheiden. Das ist wahr. Aber daraus ergibt sich für das Gericht nicht, daß es jetzt anstelle der Politik die Verfassung ändern muß, um militärische Einsätze zu ermöglichen. Dieses Ziel hat kein Richter; das Ergebnis der jeweiligen Klage ist offen. Die große Belastung der Gesellschaft, und insbesondere des Gerichts, liegt in der fehlenden Einigungsfähigkeit der Politik, die sich nicht in der Lage sieht, diejenigen Fragen selbst zu klären, die geklärt werden müssen. Dieses Versäumnis muß man der Politik schon vorwerfen. Das ist sicher ein Beitrag zur Politikverdrossenheit. Bei den Äußerungen wichtiger Bonner Persönlichkeiten empfinde ich ein viel zu starkes Finassieren. Es scheint, als sei der Wille, sich über die wichtigen Fragen zu verständigen, nicht mehr groß genug. Unter der mangelnden Kompromißfähigkeit leidet die Politikfähigkeit.

Die Politik erweist sich als politikunfähig, daher rührt der Machtzuwachs des Bundesverfassungsgerichts. Es wird – wie in der Vorentscheidung zur Awacs-Klage – mit dem Argument befaßt, es gelte außenpolitischen Schaden abzuwenden, und geht in seiner Urteilsbegründung auf dieses Argument ein. Das verstärkt den Eindruck, das Gericht betreibe Außenpolitik.

Die Awacs-Entscheidung hat in der Tat weitverbreitete Irritationen ausgelöst. Der Vorwurf lautete: Wie kann das Gericht für seine Entscheidung außenpolitische Gründe heranziehen? Doch bei dem Verfahren der einstweiligen Anordnung wird eben nicht die Rechtsfrage selbst entschieden, sondern nur der einstweilige Zustand bis zur Entscheidung der Rechtsfrage geordnet. Um hier richtig abzuwägen, werden alle vorgebrachten Gesichtspunkte herangezogen – eben auch ein möglicher außenpolitischer Schaden. Die Mehrheit in der Awacs- Sache – sie betrug 5:3 – hat angenommen, jetzt nicht zu fliegen sei aus außenpolitischen Gründen gewichtiger, als jetzt zu fliegen und hernach im Urteil über die Rechtsfrage festzustellen, daß solche Flüge verfassungswidrig sind. Um es anschaulich zu machen: Auch wenn jemand gegen seinen Nachbarn eine einstweilige Anordnung auf Abriß eines Hauses erwirken will, weil es angeblich zu dicht an der Grundstücksgrenze errichtet wurde, wird nicht gefragt, wer von beiden im Recht ist. Die einstweilige Anordnung würde abgelehnt, denn es könnte sein, daß der Kläger in der Rechtsfrage gar nicht recht bekommt, und dann wäre der Abriß zu Unrecht geschehen. Also, es geht immer nur um eine einstweilige Regelung, die sich an dem Prinzip des geringstmöglichen Nachteils orientiert. Es wäre aber im Urteil zur eigentlichen Rechtsfrage ein kardinaler Fehler, wenn dann außenpolitische Belange eine Rolle spielten. Hier gibt es nur noch den Verfassungstext, nicht die außenpolitische Überlegung.

Halten Sie nach der Vorentscheidung den Schluß für unzulässig, daß die Mehrheit des Gerichtes bereit ist, die außenpolitischen Erwägungen der Bundesregierung ausschlaggebend sein zu lassen?

Das ist ein psychologischer Schluß, der sich als voreilig erweisen könnte.

Wie reagiert das Gericht auf die öffentlichen Interpretationen einer solchen Vorentscheidung? Die wurde ja von den Interessenten einer großzügigen Auslegung des Grundgesetzes siegesgewiß so interpretiert, daß in Zukunft alles möglich sein wird.

Solche Äußerungen, oft von Leuten, die es besser wissen, sind ärgerlich, weil sie die öffentlichen Mißverständnisse nur weiter befördern.

Schaffen diese Äußerungen nicht eine Erwartungshaltung, die dann auf die Entscheidung des Gerichtes zurückwirkt? Ist es denn dann wirklich noch unabhängig oder schon Instrument eines politischen Willens?

Kein Richter kann sich gegen öffentliche Stimmungslagen perfekt abschirmen. Drohen sie auf die Rechtsfindung eines Richters einzuwirken, ist das einzige Gegengewicht, sich dieses Problem bewußtzumachen. Dann kann es keines mehr sein. Es ist in meinem Senat schon vorgekommen, daß man sich solche Stimmungslagen bewußtmachte.

Teilen Sie den Eindruck, daß der Awacs-Fall von einer neuen Qualität war?

Die Awacs-Klage war deswegen von anderer Art, weil die FDP als Teil der Koalition sich gegen die CDU gestellt hat. Wir haben sehr genau geprüft, ob das eine zulässige Klage war, und haben uns damit nicht leichtgetan. Das war schon eine Uraufführung: Ein Teil der Koalition klagt gegen die Regierung.

Hat das Gericht das als Zumutung empfunden?

Schon. Immerhin ist bisher jede Regierungskoalition mit ihren internen Schwierigkeiten ohne Mithilfe des Bundesverfassungsgerichts fertiggeworden. Aber das hat uns im Urteil über die Rechtsfrage der Zulassung einer solchen Klage im Ergebnis nicht behelligt.

Halten Sie es denn für legitim, wie es jetzt von konservativer Seite getan wird, in die Grauzone der Verfassung etwas als Möglichkeit hineinzudefinieren, was zum Zeitpunkt, als die Verfassung geschrieben wurde, real nicht im Bereich des Möglichen lag?

Kein Kommentar.

Es gab einen innergesellschaftlichen Konsens, Aufgabe der Bundeswehr ist die Landesverteidigung. Jetzt wird der Auftrag so unterderhand noch schnell auf die Verteidigung der Menschenrechte in aller Welt ausgeweitet.

Das ganze sollte von einer Verfassungsfrage zu einer politischen Frage werden. Mit welcher Mehrheit der Bundestag zu entscheiden hätte, wäre Sache der Einigung der politischen Kräfte.

Damit würde die Verfassung aber ihre restriktiven Bindungen in bezug auf Bundeswehreinsätze verlieren, die sie – vorbehaltlich des Urteils – möglicherweise jetzt noch hat.

Aber das wollen Sie doch, daß das Parlament entscheidet, und ich halte es wirklich für besser, wenn in Fragen, in denen Flexibilität angebracht ist, die Verfassung die Möglichkeit einer politischen Entscheidung beinhaltet. Also, es wäre dann eindeutig Sache der Politik, nicht nur weil deutsche Soldaten möglicherweise dabei sterben, sondern weil generell der Einsatz von Militär eben eine ganz eminente Entscheidung im Leben eines Staates ist. Das könnte für eine Zweidrittelmehrheit sprechen.

Anders als in der Frage zukünftiger Bundeswehreinsätze ist es in der Abtreibungsdebatte gelungen, nach langer und zäher Auseinandersetzung einen Kompromiß zu finden. In diesem Fall hat dann das Gericht seinen Beitrag zur Politikverdrossenheit geleistet.

So? Es waren doch gar nicht die großen politischen Kräfte, die einen Kompromiß gefunden haben, sondern es war der seltene Fall, daß jeder nach seiner Façon selig werden durfte. Es war die Individualisierung einer politischen Frage. Daraus aber ergibt sich niemals der Erweis der Politikfähigkeit der großen Kräfte im Sinne der Kompromißfähigkeit.

Das heißt, der Kompromiß funktioniert nur, wenn der Fraktionszwang nicht angetastet wird?

Ein Kompromiß kann auch funktionieren, wenn die Fraktionen ein Thema bewußt der Entscheidung der einzelnen Abgeordneten überlassen. Dann müßten sie allerdings das gefundene Ergebnis auch akzeptieren. In Wahrheit aber hat diese Klage gezeigt, daß es mit der Kompromißfähigkeit der großen Kräfte nicht weit her ist. Gut, am Ende hat dann das Gericht die ganze Kritik abbekommen. Wie geht man dort um mit der harschen öffentlichen Reaktion?

Das ist sicher je nach Richter verschieden. Aber ich habe nicht den Eindruck, daß einer der Richter, hätte er es noch einmal zu entscheiden, durch die Kritik zu einem anderen Votum bewogen werden würde.

Die erste Reaktion auf das Urteil war nacktes Entsetzen. Hinterher kommen dann die ganz Kundigen, die erklären dem Publikum diesen Hintersinn und jene Nebenbedeutung der Urteilsbegründung, bis am Ende fast das Gegenteil dessen herauskommt, was es auf den ersten Blick zu sein schien. Man empfängt den Spruch des Verfassungsgerichtes wie einen delphischen Orakelspruch. Damit ist die Klärung doch gerade nicht erreicht. Was ist denn dann der Fortschritt nach einem solchen Urteil?

Wirklich ein Orakel? Das Gericht hat nach seinen Darlegungen im Urteil eine ungewöhnlich detaillierte Übergangsregelung getroffen; die detaillierteste, die es in der Geschichte des Gerichts bisher gab. Ein Mangel an Klarheit dürfte dem Urteil eigentlich nicht vorzuwerfen sein, so wenig es ausgeschlossen ist, daß in Fragen des Details die unterschiedlichen politischen Kräfte das Urteil unterschiedlich interpretieren.

Gibt es nicht dennoch eine Tendenz zum orakelhaften sprechen?

Das Gericht will keine Unklarheiten; in keinem der beiden Senate. Wo wir orakelhaft geblieben sind, haben wir unsere Aufgabe schlecht erfüllt.

Probieren wir es mal mit der gegenteiligen Kritik: Nach dem Urteil wurde dem Gericht vorgeworfen, es habe mit seinen detaillierten Auflagen für die Beratung seine Kompetenz eindeutig überschritten. Die „Zeit“ hat das so kommentiert: „Richter, die derart weit gehen, untergraben ihre Autorität.“

Das ist wirklich ein heikler Punkt. Wenn man sagt, das Grundgesetz schützt auch das Leben der Ungeborenen, dann kommt man sehr schnell dahin, daß man bis ins Detail nachkontrolliert, wodurch die Schutzwirkung Einbußen erleiden könnte. Das ist ein generelles Problem der Auslegung von Grundrechten, wenn man sie als objektive Schutzprinzipien interpretiert. Darin liegt leicht eine Maximalisierungstendenz. Man kommt dann sehr schnell zum Problem der Abgrenzung gegenüber der Politik.

Die individualisierte Entscheidung, die zum 218-Kompromiß geführt hat, erscheint doch unter Demokratiegesichtspunkten als echter Fortschritt. Vielleicht ist die individuelle Gewissensentscheidung verfassungsmäßig nicht genügend abgesichert, wenn man ihr hernach wieder die Macht nehmen kann?

Wollen wir nicht die Herrschaft der Verfassung über die Politik? Wer soll sie denn ausüben, wenn nicht Richter, die über der Politik stehen? Dieses Gericht steht auf dem Fundament der furchtbaren Erfahrungen der Verfolgten des NS-Regimes. Sonst hätte wohl der demokratische Gedanke in Deutschland gar nicht die Kraft gehabt, einem Gericht die Verfassungskontrolle der Gesetze anzuvertrauen. Geschieht sie, macht man es selten allen recht. Im Fall des Urteils zum Schwangerschaftsabbruch zum Beispiel weder Ihnen noch der katholischen Kirche.

Der Impuls zur Institutionalisierung einer starken Verfassungsgerichtsbarkeit, einer richterlichen Kontrolle politischen Handelns anhand der Normen einer Verfassung kommt aus den traumatischen Erfahrungen mit diktatorischer Herrschaft. Ist das ein deutsches Spezifikum, oder läßt sich diese Erklärung auch auf andere Länder übertragen?

Man kann ganz Europa aufteilen nach der Frage, wer hat Erfahrungen mit Diktaturen gemacht, die aus dem eigenen Volk erwachsen sind, und wer nicht. Alle, die diese Erfahrungen nicht machen mußten, haben kein Verfassungsgericht, alle anderen haben eins: In Osteuropa alle, die eine Herrschaft der Diktatur erlebt haben.

Es leuchtet ein, wenn Sie sagen, wir stehen über den Gewalten. Aber für die Logik der Gewaltenteilung ...

... bedeutet das, wie schon erwähnt, in Verfassungsfragen die Überordnung des Bundesverfassungsgerichts über die gewählten Abgeordneten. Es beruht eben – theoretisch gewendet – auf der Erfahrung, daß sich das demokratische Prinzip gegenüber den Totalitarismen des zwanzigsten Jahrhunderts nicht bewähren konnte.

Bei einer Institution, die über den Gewalten angesiedelt ist, ist leicht einzusehen, warum die Frage der Besetzung so eminent politisch, prekär und umkämpft ist.

Sie werden vielleicht erstaunt sein, doch ich halte den derzeitigen Besetzungsmodus unter allen schlechten für den besten. Wir verlangen von den Parteien, wenn ich das mal überspitzt ausdrücken darf, Gehorsam. Und das können wir nur, wenn die Parteien ihrerseits bei der Besetzung dieses Gerichtes die Macht ausspielen, die sie ohnehin ausüben. Doch die beiden großen Parteien müssen sich einigen, und dabei kommt in der Regel Qualität heraus. Natürlich wird sich die CDU nicht die allerliberalsten, die SPD nicht die allerkonservativsten Leute aussuchen, und natürlich werden wir im Gericht unsere politischen Auffassungen nicht einfach ablegen. Aber unsere Parteibücher, die legen wir ab. Ein Parteigänger ginge im Gericht unter.

Die Frage der Anhängerschaft spielt bei den Vorschlägen der Parteien ihrer Meinung nach eine untergeordnete Rolle?

Die Parteien wissen ziemlich genau, daß es sich nicht lohnt, fromme Leute reinzuwählen. Sie wären in kurzer Zeit am Rande des Geschehens. Natürlich, der spezifische liberale oder konservative approach, mit dem der Richter an die Verfassung herangeht, war bei ihm schon vorher da. Doch sein Resonanzboden sind sieben andere Richter und nicht, wie früher, die Öffentlichkeit. Man verleugnet sich da nicht, aber die Probleme transformieren sich auf eine Ebene, die für das Argument der anderen erreichbar sein muß; und viele Probleme sind durch ihren Spezialisierungsgrad ohnehin parteipolitischem Denken entzogen.

Im Falle von Frau Herta Däubler-Gmelin gab es erstmals eine öffentliche Kampagne gegen eine Kandidatin, wie erklären Sie sich das?

Das hat wohl mit der Vorgeschichte zu tun. Jürgen Schmude war bereits benannt. Dann kam die Intervention der SPD-Frauen, so daß man schon jetzt sicher sagen kann: Meine Nachfolgerin ist eine Frau. Der Umschwung, erstmals eine Frau als Vorsitzende, der war einfach fällig. Es war eine taktische Ungeschicklichkeit, zu glauben, man könne bei laufendem 218-Verfahren wieder einen Mann präsentieren.

Vielleicht wird der Streit jetzt erstmals so erbittert ausgetragen, weil mit dem Machtzuwachs des Gerichtes auch die Bedeutung der einzelnen Besetzung wächst?

Ich glaube, die Macht des Gerichts wird von den Politikern heute nicht höher eingeschätzt als vor zehn Jahren.

Gegen Frau Däubler-Gmelin wird von konservativer Seite eingewandt, sie sei zu sehr parteipolitisch geprägt. Das klingt nicht gerade überzeugend, wenn man bedenkt, daß viele ihrer möglichen Vorgänger Parteipolitiker waren.

Es gab aktive und hochrangige Politiker, die sogar Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts wurden und sich dort großes Ansehen erwarben. Aber ich habe es längst aufgegeben, zu unterscheiden, was in dem Streit um meine Nachfolge ernsthaftes Argument ist und was Finassieren ist.

Das Privileg, das Sie gegenüber der Politik haben, liegt darin, daß Sie den Entscheidungsprozeß nicht ständig auf dem offenen Markt austragen.

Darin liegt in der Tat die Chance für die Autorität jedes Gerichts. Die Urteile entstehen nach einer streng geregelten Verhandlung aufgrund einer verschwiegenen Beratung. Das Gericht sollte nicht die Zustimmung der Öffentlichkeit suchen, sich allenfalls an ihr freuen und vom Gegenteil nicht überrascht sein.

Finden Sie nicht auch, daß darin eine ziemliche Zumutung für die Gesellschaft steckt?

Niemand wollte es wohl wirklich anders. Eine Zumutung wird es erst, wenn auf Qualität aus einem Gericht nicht zu rechnen ist. Sie hätten gern in Sachen Paragraph 218 das Gesetz vom vergangenen Jahr unversehrt. Aber stellen Sie sich vor, alle Gesetze wären bestehengeblieben, oder es wäre auf bestimmten Gebieten überhaupt zu keiner gesetzlichen Regelung gekommen, oder das Gericht hätte nicht die anderen Gerichte anhalten dürfen, in der Auslegung des Gesetzes die Verfassung strenger zu beachten. Dieses Gericht hat immer wieder die Grundrechte derjenigen in den Mittelpunkt seines Tuns gerückt, die von der tagesverhafteten Politik so genau nicht wahrgenommen wurden. Beispiel: Gleichberechtigung der Frau in der Erziehung. Zu meiner Studienzeit gab es noch den sogenannten Stichentscheid des Mannes, nach dem Motto: Einer muß doch entscheiden. Das war in den fünfziger Jahren lebendiges Recht. Dann haben zwei Frauen geklagt, und der Paragraph wurde für nichtig erklärt. Damit hatten zwanzig Millionen Mütter von heute auf morgen einen anderen Status. Oder: Heute gibt es keinen Strafvollzug ohne minutiöse gesetzliche Regelung und ohne daß gegen jeden Eingriff zwei Instanzen zur Verfügung stehen. Das wurde Anfang der siebziger Jahre vom Gericht durchgesetzt. Drittes Beispiel: Es verletzt die Freiheitsrechte eines Menschen, ihn über eineinhalb Jahrzehnte in der geschlossenen Psychiatrie zu verwahren, wenn von ihm keine anderen Delikte als Diebstahl zu erwarten sind. Dies mußte erst vom Bundesverfassungsgericht festgestellt werden. Oder nehmen Sie die Belange des kleinen Steuerzahlers, ja sogar die des einzelnen Abgeordneten in einem durch Fraktionen beherrschten Parlament. Ja, sogar die politischen Rechte der auf dem Gebiet der neuen Länder entstandenen oder fortexistierenden Parteien mußte das Gericht schützen: Es verwarf eine auf das ganze Bundesgebiet bezogene Fünfprozentklausel, die sich die drei klassischen Fraktionen ausgedacht hatten. Mit 8:0 hat das Gericht gesagt, das ist ein untauglicher Versuch, die Wiedervereinigung zu erreichen.

Also, unterm Strich würde ich sagen, das Gericht lohnt sich.

Herr Mahrenholz, wie lange werden Sie noch dieser lohnenden Aufgabe nachgehen?

Bis die Bonner Spitzen sehen, daß sie sich mit der Nichteinigung über meine Nachfolge in den Augen der Öffentlichkeit blamieren. Das Gespräch führten Antje Vollmer und Matthias Geis