Aufgabengerecht oder ungerecht?

■ Hamburgs Schulsenatorin Rosemarie Raab (SPD) und CDU-Schattensenatorin Ingeborg Knipper im taz-Streitgespräch    Gesprächsleitung: Kaija Kutter

taz: Henning Voscherau sagt, eine große Koalition würde an der Schulpolitik scheitern.

Raab: Ich weiß nicht, ob Herr Voscherau das so gesagt hat, aber ich selbst sehe es so.

Warum?

Raab: Der größte Dissenz liegt in der Frage, ob man Schule als Institution versteht, die Schüler nach einem vermeintlich angeborenen Begabungspotential in Schultypen einsortiert. Oder ob man dieses Potential als etwas versteht, das weiterentwickelt werden kann. Ich betrachte es als Kernaufgabe der Pädagogik, diesen Entwicklungsprozeß zu gestalten, der eben nicht schon von vornherein bestimmte Lernmöglichkeiten festlegt, sondern der in seinem Ausgang offen ist, auch im Hinblick auf den Schulabschluß. Genau dies ist auch die Grundidee der Gesamtschule.

Frau Knipper, könnten Sie an diesem Punkt Kompromisse machen?

Knipper: Frau Raab hat den entscheidenden Unterschied formuliert. Wir sind allerdings der Meinung, daß Begabung eine Anlage ist, die in einem ganz bestimmten Rahmen entwickelt werden muß. Das schließt nicht aus, daß es Eltern gibt, die die Gesamtschule bevorzugen. Es gibt aber eine große Elterngruppe in Hamburg, fast 75 Prozent, die gegliederte Schulformen für ihre Kinder anwählt, weil sie denken, daß sich die Begabung in einem System, das unter relativ homogenen Bedingungen arbeitet, besser entwickelt. Unsere Forderung geht dahin, diese verschiedenen Schulformen in gleicher Weise auszustatten.

„Gleichrangig heißt nicht, daß alle die gleichen Lehrerstunden haben.“

Ingeborg Knipper

Was hätte die Gesamtschule von einer Senatorin Knipper zu erwarten? Weniger Stellen?

Knipper: Ich habe im letzten Wahlkampf gesagt, ich wolle den Gesamtschulen nichts wegnehmen. Diese Aussage kann ich jetzt nicht mehr halten. Wir können nicht in den nächsten vier Jahren 14.000 Schüler mehr versorgen und gleichzeitig alle Schulformen auf dem Niveau der Gesamtschule ausstatten. Wir werden also umschichten müssen, wenn wir eine gleichrangige Förderung erreichen wollen. Gleichrangig heißt nicht, daß alle die gleichen Lehrerstunden haben. Bei den Hauptschulen beispielsweise wären mir die kleinen Klassen wichtiger. Aber diese Diskrepanz, wie sie heute besteht, ist für uns nicht hinnehmbar.

Frau Raab, vernachlässigen Sie Gymnasien und Hauptschulen?

Raab: Nein. Wir statten die Schulen aufgabengerecht aus. Aber das, was Frau Knipper ankündigt, ist das Aus für die Gesamtschulen. Denn die Gesamtschulen brauchen andere Rahmenbedingungen, um die ganze Breite der Schülerschaft ihren Möglichkeiten entsprechend zu fördern. Diese Rahmenbedingungen haben wir in Hamburg geschaffen. Die GEW würde das sicher anders sehen, aber im Prinzip geben wir den Gesamtschulen das an Lehrerstunden und Sachausstattung, was sie brauchen, um ihre Schüler differenziert zu fördern. Was Sie ankündigen, Frau Knipper, wird in Bayern bereits praktiziert: daß eine formale Gleichbehandlung von Ungleichem als gerecht ausgegeben wird. Das ist sie aber nicht. Was Sie vorhaben, nimmt den Gesamtschulen die Existenzmöglichkeit.

Knipper: Das stimmt nicht. Die Stunden, die Gesamtschulen zur Verfügung haben, kommen durchaus nicht alle den Schülern zugute. Auch bei Verwaltungs- und Koordinationsstunden sind sie sehr viel besser ausgestattet. Es gibt niemanden, der mir wirklich überzeugend nachweisen kann, warum in der Hauptschule keine Klassenlehrerstunde vonnöten ist.

Raab: Sie wollen also die Klassenlehrerstunde in der Gesamtschule abschaffen, um sie anderen geben zu können.

Knipper: Die einen haben zwei und die anderen haben gar keine.

Raab: Das sind nicht beides Klassenlehrerstunden. Das wissen Sie auch. Im übrigen brauchen Gesamtschulen mehr Zeit für Koordination. Wenn wir gleichzeitig sicherstellen wollen, daß Schüler, die am Ende ein Abitur machen wollen, und Schüler, die den Hauptschulabschluß erreichen können, in gleicher Weise gefördert werden, dann müssen zwischen den Lehrern sehr viel mehr Absprachen möglich sein als im gegliederten Schulsystem.

Frau Knipper, Sie betonen stets die Wichtigkeit der Sonderschulen. Halten sie nichts von Integration behinderter Kinder?

Knipper: Ich denke, daß man über zehn Jahre Integration eine ehrliche Bilanz ziehen muß. Für viele Kinder ist dies eine Lösung, aber nicht für alle. Ich habe ja über meinen Beruf einen Einblick in die praktische Arbeit. Ich höre Positives, aber ich höre eben auch von Problemen.

Von geistig behinderten Kindern, die am Rande ihrer Möglichkeiten sind. Man muß ehrlich sein gegenüber den Bedürfnissen von behinderten Kindern. Die Nichtbehinderten profitieren mit Sicherheit alle. Aber auch da kommen wir an einen Punkt, an dem wir uns fragen müssen, ob es auf Dauer finanzierbar ist.

Raab: Das war ja ein Grund Ihrer Ablehnung dieses Schulversuchs, daß Sie fanden, er sei zu teuer. Ich kann das nicht teilen. Ich halte Integration aus genau dem eingangs erwähnten Verständnis von Pädagogik für sinnvoll. Nämlich, daß man den Schüler seinen Möglichkeiten entsprechend fördert und ihn nicht auf ein bestimmtes Entwicklungspotential festlegt. Daß dies gelingt, das können wir nach zehn Jahren Integration sagen.

Und, sind Kinder überfordert?

Raab: Es gibt in allen Schulformen, auch in Sonderschulen, Lehrer, die von einzelnen Schülern sagen, daß sie sie nicht ausreichend fördern können. Deshalb würden wir nicht sagen, die Schulen hätten sich nicht bewährt. Sondern wir müssen uns überlegen, was können wir verbessern, damit es nicht notwendig wird, Schüler auszugrenzen.

Ein Dissens ist ja auch das 13. Schuljahr. Frau Raab, warum halten sie daran fest?

Raab: Auf dem gerade beendeten CDU-Bundesparteitag wurde festgestellt, daß wir zu viele Akademiker und zu wenig Facharbeiter hätten. Das Ziel einer Schulzeitverkürzung ist ganz eindeutig, weniger Abiturienten zu haben und mehr Schüler in die duale Ausbildung zu lenken. Das soll erreicht werden, indem man einerseits die Schulzeit verkürzt und andererseits die Leistungsanforderungen hochschraubt. So daß durch diese Zangenbewegung die Zahl derer begrenzt wird, die überhaupt das Abitur erreicht. Und das lehne ich entschieden ab.

Knipper: Daß Sie das so interpretieren, ist Ihr Recht. Aber ich gebe eine völlig andere Interpretation. Für mich geht es nicht um dieses eine Jahr. Für mich geht es darum, daß wir ja heute an lebenslanges Lernen denken müssen, an Lernphasen innerhalb eines Berufslebens. Und daß wir uns überlegen müssen, wie lange die Grundausbildung dauern darf. Ich glaube, unsere Relationen zwischen Ausbildungszeit und Arbeitszeit insgesamt, die stimmen nicht mehr.

Wenn man sich die demographische Entwicklung vor Augen führt, dann gibt es schon einen Zusammenhang zwischen dem Standort Deutschland und dem, was Bildung dafür leistet. Ich möchte auch noch einmal betonen, daß, was Ihnen so sehr am Herzen liegt, die Förderung der Schwächeren, nur finanziert werden kann, wenn wir eine leistungsfähige Wirtschaft haben. Dazu müssen die beitragen, die aufgrund ihrer geistigen und körperlichen Kräfte dazu in der Lage sind. Und deshalb stimmt es nicht, daß wir da jemandem was verbauen wollen. Im Gegenteil. Wir brauchen mehr Akademiker, davon bin ich fest überzeugt. Die Frage ist doch, ob man denen, die es packen, verwehren soll, nach 12 Jahren Abitur zu machen?

Also ein zwölfjähriges Abitur auf freiwilliger Basis.

Knipper: Ja.

Raab: Sie waren bei der vorherigen Frage sehr ehrlich. Dabei sollten Sie bleiben. Die CDU hat unmißverständlich gesagt, und in allen mir vorliegenden Papieren ist das nachzulesen, sie will das achtjährige Gymnasium. Nicht ein, sondern das achtjährige.

Knipper: Aber wir haben gerade in Berlin beschlossen, erst nach einer Übergangszeit und mit Versuchen.

Raab: Also Sie wollen jetzt nur Versuche machen. Das ist neu.

Knipper: Das geht nicht auf Knopfdruck. Ich kann nicht einfach sagen, so, jetzt fällt das 13. Schuljahr weg. Das muß man von unten aufbauen. Da muß viel Überzeugungsarbeit geleistet werden. Finanziell rechnet sich das, wenns klappt, in zehn Jahren.

Frau Knipper, wie würden Sie die Oberstufe reformieren?

Knipper: Ich denke, daß in der Mittelstufe ein bestimmtes Grundwissen vermittelt werden und in der Oberstufe eine Schwerpunktbildung stattfinden muß, die aber nicht soweit gehen darf, daß die Studierfähigkeit nicht mehr gewährleistet ist. Ich hör das aus den Naturwissenschaften, aber auch aus anderen Bereichen, daß bestimmte Lerntechniken nicht vorhanden sind. Dies ist wichtiger, als den Wissensstoff noch weiter anzureichern. Der wird jedes Jahr größer, wir können nicht alle zehn Jahre die Schulzeit verlängern, um das in die Köpfe reinzukriegen. Wir müssen das Instrumentarium vermitteln, mit dem junge Menschen lernen, sich diese Fülle des Wissens nutzbar zu machen.

Raab: Wie das aber mit einer Schulzeitverkürzung erreicht werden soll, kann ich nicht nachvollziehen. Sicherlich, auch die Oberstufe ist reformbedürftig. Ein gutes Beispiel ist für mich die Max-Brauer-Gesamtschule, in der im Rahmen eines Schulversuchs die Fächer zu interdisziplinären Lernprofilen zusammengefaßt worden sind. Da geht es nicht um die Vermittlung von fachspezifischem, abrufbarem Wissen, sondern um die Förderung von Schlüsselqualifikationen wie: Teamfähigkeit und selbstverantwortliches Lernen. Wenn man dieses will, dann setzt das voraus, daß man auf die Persönlichkeit der Schüler setzt. Deren Entwicklung aber braucht Zeit.

Knipper: Da gibt es keinen Dissens, was die anderen Lernformen angeht. Ich warne nur davor, Teamfähigkeit und diese Dinge in den Mittelpunkt zu stellen, ohne das notwendige Grundwissen. Fragen kann ich nur auf der Basis eines bestimmten Grundwissens. Wenn ich mir manchmal angucke, wie Achtklässler im Projektunterricht die Hungerprobleme der Dritten Welt in vier Wochen lösen, dann ängstigt mich das.

Frau Raab, Ihnen wird immer wieder vorgeworfen, sie würden die Gymnasien vernachlässigen. Der Deutsche Lehrerverband moniert zum Beispiel, daß nicht sichergestellt sei, daß es in zehn Jahren genügend Fachlehrer für Deutsch, Französisch oder Latein gibt. Wer in ihrer Behörde kümmert sich darum?

Raab: Wir haben eine Lehrerbedarfsplanung, die aktuell fortgeschrieben wird.

Auch nach Fächern?

Raab: Ja. Ich glaube im übrigen, daß wir im Gymnasialbereich die geringsten Probleme haben. Es gibt über 3000 arbeitslose Lehrer, die darauf warten, eingestellt zu werden.

Knipper: Aber die sind anderweitig beschäftigt.

„Es gibt am Gymnasium zuwenig Neueinstellungsmöglichkeiten.“

Rosemarie Raab

Raab: Ich hoffe, daß sie anderweitig untergekommen sind. Aber sie bewerben sich dennoch. Im Gymnasialbereich haben wir vielmehr das Problem, daß es, wegen des Lehrerüberhangs, gemessen an den Grundlagen, die Senat und Bürgerschaft beschlossen haben, zuwenig Neueinstellungsmöglichkeiten gibt.

Knipper: Aber doch nur, weil die Frequenzsenkung in Klasse 8 stehen geblieben ist. Und weil die KMK-Auflagen für die Oberstufe sich in der Bedarfsplanung noch nicht niederschlagen, so daß letztlich der Bedarf der Oberstufe auf Kosten der Unter- und Mittelstufe gedeckt wird. Die Briefe über Unterrichtsausfall an Gymnasien haben sie ja genauso auf dem Schreibtisch liegen wie ich. Die schicken uns ja freundlicherweise immer eine Kopie.

Raab: Ich habe gesagt: Gemessen an den Grundlagen, die Senat und Bürgerschaft beschlossen haben.

Knipper: Die Frequenzsenkung ist an der Gesamtschule bis Klasse 10 durchgezogen worden. Im Gymnasium hat's in Klasse 8 aufgehört.

Raab: Es ist eine Frage der Finanzierungsmöglichkeiten. Und auch der Prioritäten. Die Frage ist: Woran messen Sie ein Defizit? Da sind einmal die Bedarfsgrundlagen, die Senat und Bürgerschaft beschlossen haben.

Da sind zum anderen pädagogische Gesichtspunkte: Ein selbstorganisierter, stärker auf die Selbstverantwortung der Schüler bauender Unterricht, der wird mit ganz anderen Klassengrößen arbeiten können als ein Unterricht, der davon lebt, daß der Lehrer für alle Schüler der zentrale Wortgeber ist.

Schüler, die selbstständig lernen, brauchen weniger Lehrer?

Raab: Die Paradoxie unseres Schulwesens ist doch, daß wir in der Oberstufe, wo wir eigentlich die größte Selbständigkeit des Schülers voraussetzen dürfen, die kleinsten Gruppen haben. Mit der weiteren Paradoxie, daß sie anschließend in die größten Lerngruppen entlassen werden: an die Universität.

Knipper: Diese Minigruppen in der Oberstufe regen mich auch auf. Nur dieses selbständige Lernen, das kommt ja nicht angeflogen. Das muß man wirklich lernen. Da muß man Hilfen geben. Das kann ich mir nun wirklich nicht vorstellen, daß es Ihre neue Philosophie ist, daß man das in großen Klassen besser erreichen kann als in kleinen.

Raab: Ich habe nicht vor, die Klassen zu vergrößern. Nur, es gibt sehr positive Erfahrungen mit der Selbstorganisation des eigenen Lernprozesses schon in der Grundschule. So lernen Kinder im offenen Unterricht schon in der 1. und 2. Klasse in Gruppen zu arbeiten, um ihr eigenes Lernen nach einem Wochenplan zu strukturieren.

Die Umorganisation des Lernprozesses wäre also wichtiger...

Raab: ...als die Forderung nach immer kleineren Klassen.

Frau Knipper will in den nächsten vier Jahren 700 zusätzliche Lehrerstellen schaffen. Wieviele müßten es nach Ihren Schätzungen sein?

Raab: Wir haben unsere Vorstellungen für 1994 vorgelegt, da sind 95 neue Stellen vorgesehen. Für 1995 haben wir uns noch nicht festgelegt. Wir werden mit Beginn der neuen Legislaturperiode unsere Vorstellungen festlegen. Es ist im Moment schwierig, Aussagen für die Zukunft zu treffen, weil wir unklare wirtschaftliche und finanzielle Rahmenbedingungen haben.

Aber eindeutig ist doch, daß der Bedarf steigen wird. In diesem Jahr haben Sie die Poolstunden geopfert. Sind im nächsten Jahr die Klassenfrequenzen dran?

Raab: Ich kann Ihnen ganz klar versichern, daß dies die allerletzte Möglichkeit wäre. Auch wenn ich dieses Gejammer über zu große Klassen aus inhaltlichen Gründen nicht teilen kann.