Die Qual mit der Wahl

■ Ratloses Stimmvieh im Endzeitalter des alten Hamburger Parteienstaats: Wahlkampf-Spannung ohne Perspektiven   Von Florian Marten

Selten haben sie so vor ihm gezittert, die Hamburger Politiker: vor dem Stimmvieh. Nein, diesmal geht es nicht bloß um die Verteilung der Wahlkampfkostenerstattung von 5 Mark pro Stimmnase. Die WahlbürgerInnen sind launisch und unberechenbar geworden. Sie wollen mehr und anderes - und wissen doch, daß sie es nicht kriegen:

–die Neo- und Altnazi-Wähler bekommen keinen Hitler und keine SA, die in Hamburgs Straßen und Sammellagern aufräumen,

–die WählerInnen des Kleinbürger-Clubs Statt-Partei erhalten bestenfalls einige lebende Fragezeichen bzw. ein vorgelebtes gesundes Volksempfinden im Mittelklassewagen-Stil,

–die FDP-Lobbyisten keine Gewerbesteuersenkung und keinen Großgewerbetreibenden-Boom,

–die CDU-WählerInnen keine Zuschüsse für private Wachdienste und keine staufreie Fahrt für BMW und Benz,

–die SPD-WählerInnen keinen Erhalt der sozialen Standards, keine sicheren Arbeits-, Ausbildungs- und Kinderbetreuungsplätze und schon gar keine soziale Gerechtigkeit,

–die Grün-WählerInnen keine autofreie Innenstadt und keinen ernsthaften Einstieg in den ökologischen und sozialen Umbau Hamburgs,

–die WählerInnen der linksnostalgischen Nein-Sager von der Linken Alternative kein Rückdrehen des Rades der Geschichte in die seeligen Zeiten der Pariser Commune, des langen Marsches oder der Vietnam-Demos,

–die NichtwählerInnen keinen kollektiven Rücktritt der politischen Klasse.

Und alle HamburgerInnen zusammen bekommen keine oder nur eine geringfügig bessere Politik. Selbst wenn seriöse Prognosen für den Wahlausgang heute angesichts des wütenden Wählerfrusts kaum möglich sind: Alle denkbaren Konstellationen, egal ob Rot-Grün, Schwarz-Rot, Rot-Gelb, Ampel oder Rot pur, drohen mit einem gnadenlosen „Weiter So“. Der Abgrund winkt.

Natürlich trauen wir einer grünen Regierungsbeteiligung das eine oder andere Hoffungszeichen zu. Die Grünen haben fraglos die modernste Programmatik und die tauglichsten Vorstellungen für eine überfällige Erneuerung Hamburgs. Defizte an Professionalität, innerer Parteikultur, vor allem aber ihre gnadenlos löchrige Personaldecke setzen einer wirklichen Änderung politischer Verhältnisse aber enge Grenzen, die der eventuelle Partner SPD noch enger zu ziehen wissen wird.

In schlechterem Zustand als in der Ära ihrer heftigsten Recht-Links-Konflikte präsentiert sich die SPD. Unter dem haltlosen Traumtänzer Voscherau tummeln sich in trauter Zwietracht der linke Filz um Sozialbehörden-Chef Ortwin Runde und den altgedienten Drahtzieher Jan Ehlers, die ausgelaugte und zerstrittende Rechts-Connection aus Wandsbek und ein gesichtsloses Mitte-Rechts-Lager um den mediokren Reservespieler Günter Elste. Die seltenen spontanen, kreativen und selbstkritischen Schübe von Parteichef Helmuth Frahm reichen für ein Schopf-aus-dem-Sumpf-Wunder Marke Münchhausen nicht aus. Selbst wenn Voscherau über rot-grüne Verhandlungen stürzen oder sich selbst aus dem Verkehr ziehen sollte – es sind derzeit weder Personen noch Gruppen in Sicht, die besseres versprechen.

Saft- und kraftlos wie seit 1948 nicht gebärden sich CDU und FDP. Das Versager-Duo Dirk Fischer und Gisela Wild wirkt gegenüber Henning Voscherau und Krista Sager, die nun wirklich keine politischen Monumente sind, wie ein Gartenzwerg-Pärchen. Die ganze Verachtung der Hamburger Wirtschaft für die Politik wird in diesem Nullnummer-Spiel deutlich. In einer Stadt, die zig Milliarden auf den Weltmärkten und in der Werbebranche umsetzt, müßten doch wirklich bessere PolitdarstellerInnen zu finden sein, wenn die Wirtschaft auf sie Wert legen würde. Sollten FDP oder CDU dennoch ein Plätzchen im Senat finden – es würde wohl nicht weiter auffallen.

Den Hamburger Nazi-Marionetten könnte man nur wünschen, in die Bürgerschaft einzuziehen. Die parlamentarische Selbstentlarvung á la Kiel und Bremen würde auch in Hamburg funktionieren. Freilich: Da Menschen ohne Bundespersonalausweis auf diesen Beweis der Inkompetenz dennoch lieber verzichten, hoffen auch wir auf eine nazifreie Bürgerschaft.

Über Markus Wegners freie Selbstwählervereinigung sollte man eigentlich schweigen. Als kleiner Fettfleck auf der Rathaussuppe würde sie zwar wohl kaum Schaden anrichten, von ihr aber irgendeinen Nutzen oder gar Erneuerung zu erwarten, wäre absurd.

Bleiben die linken Splitter: Eigentlich wären sie mit ihrer rückwärts gewandten Weltsicht prädestiniert, mit Voscherau zu koalieren. Ihr Nein zu allem und jedem – auch zu den eigenen Wahlchancen – verdient nicht einmal Mitleid. Schade. Eine bissige Kritik des real existierenden Kapitalismus, kluge Analysen von Sozialabbau und Umverteilung und ein scharfes Auge auf die ökolibertären Anwandlungen der GAL würde der Politik in dieser Stadt gut bekommen.

Und wir, das Stimmvieh? Sollen wir brüllen, uns verweigern, zugucken, ausschlafen, einschlafen? Ich halte es da lieber mit einer Zeile von Wolf Biermann aus jenen Tagen, da er mir noch etwas zu sagen hatte: „Wir mischen uns da n' bißchen rein – so soll es sein, so wird es sein.“