„Zwei Monate war ich in der Schule...“

■ Vier Lebensläufe von AussiedlerInnen, entstanden in einem Alphabetisierungskurs der Bremer Volkshochschule

Mein Name ist Alexander Schweizer. Ich bin am 20.4.1932 in einem Dorf im Wolga-Gebiet geboren.

Am 1. September wäre ich im Jahr 1941 zur Schule gekommen. Am 3. September wurden wir nach Sibirien verschleppt. Eine Schule habe ich nie besucht. 22 Jahre habe ich dann in Sibirien gelebt. Als ich 10 war, habe ich mit der Mutter Kühe gehütet. Später dann Schafe und mit 16 wurde ich Traktorist. 35 Jahre lang bin ich mit einem Gastraktor gefahren. Immer 12 Stunden am Tage.

Von meiner ersten Frau habe ich 2 Söhne. Beide Frauen sind gestorben. 1963 bin ich nach Kirgisien umgesiedelt. Seit 10 Jahren kann ich nicht mehr arbeiten und war viel in Krankenhäusern. 1992 bin ich nach Bremen gekommen. Meine 5 Söhne, meine 11 Enkelkinder und meine Mutter sind auch hier.

Vor fünf Jahren habe ich meine Freundin Olga kennengelernt. Mit ihr zusammen komme ich auf 16 Enkel. Alexander Schweizer

Ich, Olga Hauf, bin am 1.12.1932 an der Wolga geboren — in einem Dorf. 1941 wurde ich mit meinen Eltern und meinen drei Geschwistern rausgeschleppt nach Kasachstan. 2 Monate war ich in der Schule, dann bekam ich Typhus. In Kasachstan kam ich in eine Sowchose und mußte als Kindermädchen arbeiten. 1942 wurden der Vater und die Brüder in die Rote Armee fortgenommen. Mit der Mama habe ich dann in einer Großküche Kartoffeln geschält. Die Männer sind nie wiedergekommen. Ich habe als Krankenschwester gearbeitet — von morgens 5 bis abends 10 Uhr.

Mit 23 Jahren habe ich geheiratet. Zwei Söhne kamen bald darauf. Nach 5 Ehejahren kam es zur Trennung vom Mann. Ich blieb mit den Kindern allein und arbeitete als Krankenschwester weiter. Als ich 38 Jahre alt war, zog ich mit den Söhnen zu Verwandten nach Kirgisien. Dort arbeitete ich im Tabak, dann wieder im Krankenhaus.

Jetzt bin ich 61 Jahre alt. 1992 kam ich nach Deutschland. Die Söhne und die 5 Enkelkinder sind noch in Kasachstan. Ich bin mit Alexander hierher gekommen. Seit 5 Jahren leben wir nun zusammen. Meine Kinder kommen bestimmt bald raus. Olga Hauf

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Ich bin im Jahre 1934 geboren, in der Ukraine in einem deutschen Dorf namens Onetto im Gebiet Schitomir. Meine Eltern hatten einen eigenen Hof, ein gutes Haus. Mein Vater hatte eine eigene Schmiede, also waren wir mit unserem Leben zufrieden. Und nun im Jahre 1936 ist diese furchtbare Drohung gekommen, die der ganzen deutschen Siedlung drohte. Stalin hatte ein Gesetz erlassen, wonach alle Deutschen innerhalb von 24 Stunden aus der Ukraine in die Steppen von Kasachstan zu verschleppen sind.

Es war uns verboten, irgendwas mitzunehmen, also haben unsere Eltern alles, was sie erworben und verdient hatten, dort gelassen. Wir wurden in einen Viehwaggon verladen und unter Aufsicht dort hintransportiert. Wir hatten Glück, daß es schon Sommer war, denn die Fahrt dauerte mehr als einen Monat. Wir wurden bis zur Station „Tjointscha“ gefahren. Dort wurden wir wieder verladen in einen Heuwagen.

Wir fuhren in die Steppe, die sich 70 km von der Station entfernt befand. Als wir rausgeladen wurden, waren nur Himmel, Erde und ein kleiner See da. Irgendein Vertreter ist gekommen, hat einen Pflock eingeschlagen und hat gesagt, das hier ein Dorf entstehen wird, genannt „Osjornoe“ (Osero = ein See).

Die Leute hatten nichts: Kein Essen, keine Kleidung, sie starben, starben aus Hungersnot. Meine Eltern haben angefangen in der Erde eine Erdhöhle zu bauen, um den Winter überleben zu können. Der furchtbare Win

Zwei der schreibenden AussiedlerInnen: Emil Ertner und Olga Hauf

ter ist gekommen: die Temperatur sank bis 40 Grad minus. Wir hatten nichts zu anziehen gehabt. Mehrere Leute waren erfroren und es gab nichts, womit wir die Gräber graben konnten. Also haben die Leute die Verstorbenen aufeinandergestapelt und sie im Frühling begraben. Nach einem Jahr war es so ein großer Friedhof, als ob er schon Jahre alt wäre.

Meine Mutter wurde krank, sie hatte Lungentuberkulose und starb am 24. Dezember 1938, obwohl sie nur 24 Jahre alt war. Ich war damals 4 und mein Bruder 6 Jahre alt. Papa hatte noch mal geheiratet und ist nach Omsk gefahren, wir Kinder sind bei der Oma geblieben. Im Jahre 1941 hat der Krieg angefangen, 1942 wurde mein Vater in eine Arbeitsarmee einberufen, wo er im selben Jahr verhungert ist. Wir sind mit der Oma nach Station umgezogen, wo wir 1956 angekommen sind. Dort ging ich 7 Jahre zu einer russischen Schule, aber da standen wir Deutsche unter der Aufsicht der Kommandatura, sogar auf den Markt zu gehen. Wir lebten so wie Gefangene. Eines Tages bin ich in das Nachbardorf gegangen, wofür ich bestraft wurde. Wir wurden Faschisten genannt, wurden immer beschuldigt, daß wir am schlechten Leben schuldig sind.

Als ich 17 war, bin ich arbeiten gegangen. Die Arbeit war sehr schwer, und ich mußte sie wechseln. Nachher ging ich als Praktikantin in die Nähfabrik, da war ich 9 Monate und später habe ich als Näherin geheiratet, und in diesem Jahre haben wir angefangen ein Haus zu bauen; das dauerte 2 Jahre. Wir haben 4 Kinder gekriegt: einen Sohn und drei Töchter. Im Jahre 1989 ist eine

hier bitte die beiden

Protraitfotos

nebeneinander

von meinen Töchtern mit ihrem Mann nach Deutschland gezogen. Im Jahr 1991 hat sie uns hergeholt, und so sind wir nach Bremen gekommen. Wir sind sehr dankbar. Elvira Pomin

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Ich bin im April 1927 geboren. Wir waren zehn Kinder. Dann haben sie die Kolchose geräumt. Sie haben bei den großen Familien angefangen. Dann haben sie sie aus dem Haus geholt und alles weggenommen. Wir hatten 1 Landwirtschaft, 3 Pferde, 3 Kühe und Schweine und Schafe, auch Rinder. Sie haben alles weggenommen, die Türen zugenagelt, den Vater in das Gefängnis genommen, die 2 ältesten Brüder mußten nach Sibirien weg. Sie wollten sie auch ins Gefängnis nehmen. Dann haben sie den Vater nach Hause gebracht, er war krank. Den 25. Dezember haben sie ihn beerdigt. Und dann ging die Not weiter. Die Brüder sind weg. Mein Onkel war in einem anderen Ort, der hat uns Pakete geschickt. Dann hat er geschrieben, bringt die kleinen Kinder zu uns. Das war 1931. Da war ich zwei Jahre. Dann haben sie den Onkel rausgeschickt und uns wieder nach Hause gebracht. Das war 1934, jetzt war die Mutter in die Kolchose gegangen. Da haben die Mutter und zwei Schwestern gearbeitet, jetzt ging es schon besser. 1936 haben sie uns nach Kasachstan geschickt. Ich war neun Jahre alt. Von 1935 bis 1936 habe ich ein Jahr die deutsche Schule besucht. Das war noch in der Ukraine. Von 1936 bis 1937 war es in Kasachstan sehr kalt und starkes Schneetreiben. Nach der Enteignung war es mit den Anzügen schlecht, dann

haben wir alle um den kalten Herd rumgesessen, 1938 war eine schöne Ernte, dann hatten wir Brot zum Sattessen. Nur einmal 1939 war die Ernte schlechter und es kam ein Gesetz, daß man das Getreide abgeben mußte. Da blieb nicht viel für uns über, 1939 ging ich zur Arbeit, habe Vieh gehütet. Sofort 1943 haben sie mich in die Trudarmee genommen bis 1946. Dann kam ich wieder nach Hause, in der Kolchose arbeiten, erst auf dem Land, dann haben sie mich geschickt in die Werkstatt. Dort habe ich auf der Elektrostanze gearbeitet, 1951 habe ich geheiratet. Wir haben 6 Kinder, 4 Töchter sind in Deutschland. Eine Tochter ist noch in Rußland, ein Sohn hat 6 Monate in der Armee gedient und ist dort gestorben. 1957 haben sie in der Zeitung geschrieben: wer nach Deutschland fahren will, der soll sich melden. In unserem Dorf waren es so 100 Familien, aber sie haben doch keinen rausgelassen. Da habe ich weitergearbeitet, bis meine Schwester 1987 hingefahren ist. Dann haben sie Visum geschickt. Ich bin im Oktober 1989 gekommen. 1956 bin ich aus der Kolchose weggegangen. Dann habe ich 8 Jahre gearbeitet im Betrieb als Erntehelfer. Dann bin ich rübergegangen in einen Autobetrieb. Dort habe ich gearbeitet als Schweißer 12 Jahre. Danach bin ich bald auf Rente gegangen.

Emil Ertner