Selbsthilfe oder Selbstbedienung?

Serie besetzte Häuser (dritter und letzter Teil): Selbsthilfeprojekte schossen Anfang der achtziger Jahre noch wie Pilze aus dem Hausbesetzerboden, heute sind sie an einer Hand abzuzählen  ■ Von Uwe Rada

Kurz vor 15 Uhr kam der Kuchen. Auf den Tapeziertischen lag bereits das Infomaterial: „Wie aus Selbsthilfe Selbstbedienung wurde“, heißt es auf einem Flugblatt. Zu feiern gab es an diesem Junitag nichts in der Admiralstraße in Kreuzberg. Dort, wo zu Beginn der achtziger Jahre ein ganzer Straßenzug besetzt war und Scharen von Touristen seither das Ergebnis baulicher Selbsthilfe bestaunten, wird wieder Kritik laut. Der Grund: Das einzig nicht sanierte Haus, die Admiralstraße 20, mit dem Wandgemälde eines Spanienkämpfers einst Symbol des militanten Häuserkampfes, wurde zum Streitfall zwischen jugendlichen Selbsthelfern und einem Architekten.

Dem wird vorgeworfen, vor allem sich und seine Bekannten mit Wohnraum zu versorgen: „Von den Lehrlingen, die das Haus sieben Jahre lang saniert haben“, sagt Paul*, „wird kein einziger einziehen.“ Doch genau das war eigentlich vorgesehen: „Sozial benachteiligte Jugendliche und Erwachsene lernen hier die Berufe des Bauhauptgewerbes und schaffen sich während der Ausbildungszeit die Wohnungen, in denen sie später in Gemeinschaft zusammenleben werden“, hieß es 1985 in einer Broschüre der Internationalen Bauausstellung zur Admiralstraße 20. Damals hatte der Senat die Gelder für bauliche Selbsthilfe einem gemeinnützigen Verein namens „Werkhof“ bewilligt. Vorsitzender des Vereins ist besagter Architekt, der heute von der „IBA-Romantik“ nichts mehr wissen will.

Streit um bauliche Selbsthilfe ist in Berlin nichts Neues. Mal wird den Hauptverantwortlichen wie in der Admiralstraße Selbstbedienung vorgeworfen, vor allem aber werden die Selbsthelfer selbst als „Mittelstand“ kritisiert, der es sich in den ehemals besetzten Häusern luxuriös eingerichtet habe. So besetzten 1989 mehrere Jugendliche aus der autonomen Szene das Dachgeschoß eines Selbsthilfeprojekts am Kreuzberger Wassertor. Sie fanden es „dekadent“, daß die Räume leerstanden oder als Gästeetage genutzt werden sollten. Die Selbsthelfer, von denen zwei Drittel mittlerweile zu Besitzern geworden waren, ließen sich ihrerseits auch nicht lumpen und beförderten nach dem Scheitern mehrerer Gespräche die unerbetenen Gäste mit Hilfe der Polizei auf die Straße. Michael*, der damals als Mieter des Studentenwerks, das etwa ein Drittel der Wohnfläche vermietete, am Wassertor wohnte, wundert sich noch heute über die „Kaltschnäuzigkeit, mit der Linke die Polizei riefen, obwohl es um einen grundlegenden Konflikt ging“.

Heute, vier Jahre nach dem Fall der Mauer, muten solche Konflikte wie der um das Wassertor freilich seltsam an. Das liegt sicher auch daran, daß in Ostberlin, wo seit der Wende etwa 130 Häuser besetzt wurden, Selbsthilfe bis auf wenige Ausnahmen kein Thema ist. Viele der meist jüngeren Besetzer lehnen Eigenleistungen am Bau, die über das Notwendige hinausgehen, von vorneherein ab. „Ein Grund dafür“, sagt Martin*, Besetzer aus dem Prenzlauer Berg, „sind sicher auch die Erfahrungen, die man in Westberlin gemacht hat.“ Martin hat weder Lust darauf, sich einen „Schöner-Wohnen-Palast“ zu bauen, noch darauf, „sich über Jahre hinweg auf einer Baustelle abzurackern“. Diejenigen Häuser, die bereits zu Beginn der Vertragsverhandlungen mit Selbsthilfeträgern wie Stattbau, dem Sozialpädagogischen Institut oder L.I.S.T. verhandelten, galten bereits damals als „unpolitische Wohnfraktion“.

Fabian Tacke vom Arbeitskreis Berliner Selbsthilfegruppen (AKS) sieht das anders. Interessenten für Selbsthilfe gebe es genug, sagt er, doch kaum mehr Möglichkeiten, die Projekte zu realisieren. Kaum eines der Häuser ist in der Lage, einen Nutzungsvertrag von 15 Jahren vorweisen zu können. Nur dann aber, so steht es in den Richtlinien der Bauverwaltung, gibt es Gelder für bauliche Selbsthilfe. Es sind vor allem die ungeklärten Eigentumsverhältnisse vieler besetzter Häuser und die Furcht vor Regreßansprüchen, die die Wohnungsbaugesellschaften davon abhalten, langfristige Nutzungsverträge abzuschließem. „Und sind die Häuser erst einmal wieder privat“, sagt Martin, dann wollen die Eigentümer ohnehin gleich wieder verkaufen. Eigentlich, meint er, sei Selbsthilfe nur noch möglich, wenn man das Haus kauft oder soviel Glück hat wie die Besetzer in der Christinen/Ecke Lottumstraße im Prenzlauer Berg. Dort sah die Eigentümerin, die selbst im Haus wohnt, keinen Grund, ihre Zustimmung für ein Selbsthilfeprojekt zu verweigern. Ein Ausnahmefall? „Die meisten Häuser in Ostberlin“, ist sich Martin sicher, werden von den Eigentümern saniert, nicht aber von den Bewohnern selbst. Der AKS fürchtet für diesen Fall das Aus einer Idee, deren soziale und bewohnernahe Funktion sich durchaus bewährt habe.

Seit 1981 gibt es den Arbeitskreis, in dem zur Zeit etwa 150 Wohnprojekte vernetzt sind. Neben der Auseinandersetzung untereinander bietet der AKS insbesondere Beratungen für potentielle Selbsthilfegruppen an, die von Fragen der Vereinsgründung bis zum Rechnungswesen und zur Kalkulation gehen. Vom Vorteil der baulichen Selbsthilfe ist man nach wie vor überzeugt. Schließlich, so lautet die stolze Bilanz, sei bis 1990 mit einer Fördersumme von 200 Millionen Mark eine Wohnfläche von 200.000 Quadratmetern instandgesetzt und modernisiert worden. Das sei damit doppelt soviel, wie mit der gleichen Summe bei der herkömmlichen Modernisierung durch öffentliche Zuschüsse an Hauseigentümer erreicht werde.

Doch das Aus droht nicht nur durch ungeklärte Eigentumsverhältnisse, sondern auch wegen der neuen Richtlinien des Senats: Die sehen vor, die finanzielle Eigenleistung, die meist durch unbezahlte Stunden auf der Baustelle erarbeitet wird, auf 25 Prozent gegenüber bisher 20 Prozent zu erhöhen. Außerdem soll die Mietobergrenze von derzeit 5,80 Mark pro Quadratmeter auf 8 Mark hochgeschraubt werden. In einer Rechnung, die der AKS anläßlich der Berliner Bauwochen aufgestellt hat, wird die monatliche Belastung bei den künftigen Richtlinien prognostiziert. Lag die Monatsmiete bei einem Selbsthilfeprojekt mit Erbpachtvertrag und einer veranschlagten Bauzeit von zwei Jahren 1992 noch bei rund fünf Mark pro Quadratmeter einschließlich einer wöchentlichen Arbeitsbelastung von 21 Stunden, so soll sie künftig 6,50 Mark bei einer Belastung von 29 Arbeitsstunden betragen. Noch deutlicher wird der Sprung beim genossenschaftlichen Hauskauf. Hier läge laut Modellrechnung die monatliche Miete einschließlich kapitalisiertem Eigenanteil bei 15,50 DM/qm bei einer Arbeitsleistung von 33 Stunden.

Die Forderung des AKS an den Senat lautet deshalb, Selbsthilfe als „Beitrag zur behutsamen Stadterneuerung“ nicht auszutrocknen, sondern weiter auszubauen. In der Admiralstraße indes gärt der Konflikt weiter. Weil seinerzeit aufgrund der verschiedenen Fördergelder versäumt wurde, die spätere Miete zu errechnen, zögert sich auch die Entscheidung über die künftige Belegung hinaus. Die soll nun das Bezirksamt treffen. „Doch das“, sagt ein Selbsthelfer, „kann dauern.“

* Namen von der Red. geändert. Die anderen Teile erschienen am 10.9. und 3.9.93