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Parlament als „Spielfeld“

Im Jemen sitzen nach der Vereinigung fast alle Parteien in der Regierung / Die Stammesfürsten scheren sich nicht um Parlamentsentscheidungen  ■ Aus Sanaa Karim El-Gawhary

Es ist eine wilde Schar von Leibwächtern, die sich um die Mittagszeit vor dem Eingangstor des jemenitischen Parlaments in der Hauptstadt Sanaa tummelt. Sie sind nicht mit den sonst im Leibwächtergeschäft üblichen vornehmen Anzügen bekleidet und tragen auch keine dunklen Sonnenbrillen. Die jemenitischen Bodyguards machen einen eher verwegenen Eindruck. In unterschiedlichsten Militärparkas, die in ihrer Länge halb den landesüblichen futa, eine Art Lendenschurz, überdecken, sitzen sie in der Sonne. Die Kalaschnikow und allerlei anderes Schießgerät haben sie locker über die Schultern gehängt.

Ihre Arbeitgeber streiten derweil im Inneren des hohen Hauses über die jemenitische Politik. Ein mit amerikanischen Entwicklungsgeldern erworbener Computer läßt dazu die Namen der 301 Abgeordneten, das gerade zu debattierende Thema und das jeweilige Abstimmungsergebnis in roten digitalen Lettern aufblenden.

In den letzten drei Jahren wurden Jemeniten Zeugen umfassender Umwälzungen. Im Mai 1990 vereinigten sich die „Arabische Republik Jemen“ (Nordjemen) und die „Demokratische Volksrepublik Jemen“ (Südjemen). Die zwei regierenden Parteien, der „Allgemeine Volkskongreß“ des Nordens und die „Jemenitisch-Sozialistische Partei“ des Südens, teilten sich anschließend in einer Interimsperiode die Macht und läuteten einen Demokratisierungsprozeß ein, von dem die Menschen in den meisten anderen arabischen Staaten und vor allem in den benachbarten Golfmonarchien nur träumen können. Ein Jahr nach der Wiedervereinigung wurden nach einem Referendum weitere Parteien zugelassen. Die meisten bisherigen Einschränkungen wie etwa die der Pressefreiheit wurden aufgehoben. Mehr als 450 Parteien versuchen sich seitdem in der jemenitischen politischen Landschaft zu etablieren.

In den letzten Jahren entstand eine kaum zu überschauende Zahl neuer, regierungsunabhängiger Zeitungen, Zeitschriften und Magazine. Die meisten Auslageflächen der Zeitungsstände in den großen Städten reichen für die mehr als einhundert regelmäßig erscheinenden Publikationen schon lange nicht mehr aus. „Es gibt hier fast mehr Zeitschriften als Menschen, die sie lesen können“, witzelt der jemenitische Journalist Ahmad Mathaj und spielt dabei darauf an, daß etwa 80 Prozent der Bevölkerung nicht lesen können.

Bei den ersten gesamtjemenitischen Parlamentswahlen im April gelang es keiner Partei, eine klare Mehrheit zu erreichen. Die zwei ehemaligen Regierungsparteien und die islamistische Reformpartei „Al-Islah“ teilen sich seitdem die Regierung. Der ehemalige Präsident Nordjemens, Ali Abdallah Saleh, wurde zum neuen Präsidenten Gesamtjemens gewählt, der frühere Vorsitzende der südjemenitischen Sozialisten, Ali Salim Al- Bayd, bekam das Amt des Vizepräsidenten zugesprochen. Das schon in der Interimsperiode bekannte Nord-Süd-Paar „Ali und Ali“ führt also weiterhin die Geschäfte. Al-Bayds Parteikollege Abu Bakr Al-Attas übernahm das Amt des Ministerpräsidenten, und Scheich Abdallah Al-Ahmar, der Chef der Islamisten, wurde zum Sprecher des neuen Parlaments ernannt.

Mit dieser Mammutregierungskoalition ist praktisch keine nennenswerte Opposition übriggeblieben. Dies führte dazu, daß sich die meisten Parlamentarier als Regenten und Opposition zugleich empfinden. Sie möchten am liebsten an der Macht beteiligt werden und gleichzeitig von den Oppositionsbänken aus die Korruption und die Konzeptlosigkeit der Regierung kritisieren. Da passiert es schon einmal, daß selbst Regierungsvertreter gegen die Regierung wettern. Besonders unter den Sozialisten und den Islamisten gibt es viele Parlamentarier, die sich offensichtlich unwohl in ihrer neuen Rolle fühlen.

Die islamistische Islah-Partei etwa war in der Frage der Regierungsteilnahme von Anfang an gespalten. Die Ideologen unter ihnen stellten sich quer, mit den „ungläubigen“ Sozialisten und dem als korrupt geltenden Volkskongreß gemeinsame Sache zu machen. Am Ende setzte sich dennoch der Flügel der Stammesvertreter durch. Dessen Chef Abdallah Al-Ahmar, mit dem Titel Scheich Al-Mascheich – Scheich der Scheichs –, steht zugleich der Haschid-Konföderation vor, der größten Stammeskoalition im Land. Die Islah- Partei wird damit von einem der einflußreichsten Männer des Jemen geleitet. Er hat mit anderen Islah-Abgeordneten, die ebenfalls durch Stammesloyalitäten gedeckt sind, wenig Lust, in die Opposition zu gehen und die Macht an die Regierung abzugeben.

„Es ist wichtig, eine große Koalition zu haben, damit sich die Demokratie zunächst im Lande stabilisiert. Wenn sich eine der großen Gruppen ausgeschlossen fühlen würde, hätte das wahrscheinlich einen Bürgerkrieg zur Folge“, verteidigt der sozialistische Kulturminister die Allparteienkoalition. Ahmad Al-Schmai, der Vorsitzende der Al-Haq-Partei, einer der fünf kleinen Oppositionsparteien, die sich zum „Nationalen Block der Opposition“ geformt haben, schlägt andere Töne an. Er vergleicht auf dem Gründungstreffen des Blocks die Demokratie mit dem Sonnensystem: „Genauso wie die Planeten und die Sonne bilden Regierung und Opposition zusammen ein System.“ Also, so folgert er: „Ohne starke Opposition ist die Demokratie eine wackelige Angelegenheit.“

Abdel Malik Al-Mutawakil, ein Professor für Politologie an der Universität von Sanaa, sieht eher die postiven Seiten. Das erste Mal in der jemenitischen Geschichte „gründet sich eine von der Regierung akzeptierte Opposition, und das erste Mal erkennt die Opposition die Regierung als legitim an“. Wie er versuchen viele jemenitische Politiker auf allen Hochzeiten gleichzeitig zu tanzen. Mit einem Bein steht er in der Regierung, das andere streckt er in Richtung Opposition aus. Er ist Mitglied des regierenden Volkskongresses und gleichzeitig in einer jemenitischen Menschenrechtsorganisation aktiv, die die Praktiken der Regierung aufs Korn nimmt. „Es ist meine Pflicht als Bürger, die Opposition zu unterstützen“, erklärt er. Aus der Regierungspartei möchte er aber nicht austreten, denn er will im Volkskongreß weiter mitreden. „Wenn Demokraten nicht ständig Einfluß auf den Volkskongreß nehmen, dann steigt er vielleicht wieder aus dem demokratischen Spiel aus“, fürchtet er. Besonders die Menschen im Norden seien noch nicht an Parteien gewöhnt. „Wir müssen das Spielfeld erst bauen, auf dem wir dann später wetteifern können“, erklärt er seinen kleinen persönlichen Widerspruch.

Große Koalitionen – kleine Inhalte, diese Binsenweisheit scheint auch hier zu gelten. „Der Islah spricht über die Erziehung, die Sozialisten über die Fragen der Sicherheit. Am Ende passiert dann überhaupt nichts, da sie alle nur daran interessiert sind, an der Macht zu bleiben“, analysiert Ahmad Al-Hadsch, Redakteur der in Aden erscheinenden Gewerkschaftszeitschrift Stimme der Arbeiter die politische Situation. Doch jeder scheint etwas davon zu haben. „Der Volkskongreß möchte beweisen, daß es modern ist, die Sozialisten möchten zeigen, daß sie keine Ungläubigen sind, und die Islamisten wollen bestätigen, daß sie keine Extremisten sind“, faßt der Richter Abdel Hitaar, ein Mitglied der Islah-Partei, die politische Szene griffig zusammen.

Eine in Intellektuellenkreisen derzeit häufig diskutierte Frage lautet: Behindern die Stämme die Demokratie, oder sind sie gar der Garant für eine pluralistische Entwicklung? Die Rolle der Stämme ist zentral, denn in dem Land hat die Zentralmacht noch nie in der Geschichte das ganze Territorium kontrolliert. „Wir können hier keine Demokratie aufbauen, weil wir gar keinen richtigen Staat besitzen“, erklärt Mansur Muhammad skeptisch. Er war früher Mitglied der Sozialisten und arbeitete illegal im Norden. Aus Protest gegen die Kungelei der Regierungsparteien ist er nun ausgetreten.

Viele Jemeniten stellen sich die Frage nach dem Wert eines zentralen Parlamentes, dessen Entscheidungen für die Bewohner der entfernten und schwer zugänglichen Wüsten- und Berggebiete des Landes kaum von größerer Bedeutung sein dürften. Warum sollten die Menschen die Anforderungen aus Sanaa befolgen, in Gebieten, in denen die Autos ohne registrierte Nummernschilder herumfahren und in die sich noch nicht einmal die jemenitische Armee hineintraut?

Früher, so Professor Al-Mutawakil, hätten die Stämme und die religiösen Institutionen den Ton angegeben. Mit der jemenitischen Revolution kam noch das Militär dazu. Doch beide – Militär und Stämme – seien bald zusammengewachsen. Sie alle hätten nicht das Bewußtsein, einen Staat aufzubauen. Ihre Ideen basierten immer noch auf der Herrschaft des Stammes. Die Vorstellungen eines Rechtsstaates, eines Staatshaushaltes und eines Staatsaufbaus seien kaum vorhanden. „Das macht die Schwäche des heutigen Regimes aus“, so Al-Mutawakil.

Dennoch sieht er die Stämme und die unabhängige politische Stärke der einzelnen Regionen auch als eine Chance für die neue jemenitische Zivilgesellschaft, die sich seiner Meinung nach sogar zum Garanten für Fortschritt entwickeln könnten. Die starken Regionen bilden das Herz des jemenitischen Pluralismus. Dabei entwickeln sie sich dynamisch, und die Loyalität zum Stamm wird langsam von anderen Interessen abgelöst. Gerne erzählt er eine Geschichte, die sich während der Parlamentswahlen in einer der jemenitischen Provinzstädte ereignete. Dort sorgten die 2.000 Studenten des lokalen „Wissenschaftlichen Instituts“ dafür, daß der bisher mächtige Scheich der Stadt nicht gewählt wurde. Die Islamisten hatten diese Institute als paralleles Bildungssystem zum staatlichen System aufgebaut. Vieles, darüber sind sich die meisten einig, wird davon abhängen, ob sich auch bei den Stämmen demokratische Strukturen durchsetzen können.

Al-Mutawakils Arbeitsplatz, die Uni von Sanaa, durchlebt alle Widersprüche des neuen und alten Jemen. Das Bild im Foyer der Uni, auf dem der alte und neue Präsident überlebensgroß zu den Studenten herunterlächelt, wurde nach den Wahlen durch ein handliches Foto ersetzt. Vielleicht läßt sich ja der Grad der Demokratisierung an der Größe des präsidialen Bilderrahmens ablesen.

Anderes dagegen hält sich hartnäckig. Eigentlich, so heißt es schon seit langem in der Hausordnung der Universität, ist das Tragen von Waffen verboten. Aber welcher kleiner Soldat der regulären Armee, der am Uni-Tor Wache schiebt, wird schon die Söhne der großen Stammesscheichs couragiert aufhalten, wenn diese mit ihren Leibwächtern bis an die Zähne bewaffnet zu den Vorlesungen schreiten.

Auf den nachmittäglichen Qat- Sitzungen in Sanaa kursiert unter den die lokale Droge kauenden Jemeniten der dazugehörige Witz: Eines Tages hält ein Panzer eines Stammesscheichs aus dem Norden an einer Straßensperre der Regierungstruppen. Der wachhabende Soldat klopft vorsichtig an die Luke: „Irgendwelche Waffen?“ fragt er höflich mit einem flüchtigen Blick in das Innere des stählernen Gefährts. Nachdem die Panzercrew die Frage heftig verneint hat, winkt der Soldat sie freundlich zur Weiterfahrt.

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