■ Finnlands Ausnüchterungszellen sind zu hart
: Ein Volk von Koma-Trinkern?

Helsinki (taz) – Nirgendwo in Skandinavien ist es so traurig wie in Finnland. Das war schon so, als das fünf Millionen EinwohnerInnen zählende Land noch nicht in den Strudel der untergehenden Sowjetunion ein Stück mit in den Abgrund gerissen wurde. Die Melancholie der finnischen Filme ist real. Getrunken wurde in Finnland schon immer ein wenig anders als anderswo in Europa: Statt den Genuß suchten die Finnen auch früher schon eher den Rausch. Sicher wird etwa in Frankreich oder Deutschland mehr Alkohol konsumiert, mehr Betrunkene gibt es dafür in Finnland. Das Ziel eines finnischen Trinkers dürfte sein, so schnell wie möglich den Koma-Zustand zu erreichen – sofern das Geld dazu reicht. Da ist es jetzt, wo es längst mehr als zwei Dutzend Prozent Arbeitslose gibt, für die Finnen nicht ungünstig, daß bei den Brüdern und Schwestern im nahen Estland (zwei bis vier Stunden Fahrt, je nach Schiff) die Getränke selbst in Gaststätten oft nur ein Zehntel der finnischen Preise betragen. So ist es zumindest erklärbar, warum manche der etwas haltloseren Finnen einen Wodka bestellen, das gelieferte Glas zurückschieben – um dann gierig eine ganze Flasche Wodka zu ordern. In den Museen Tallins oder etwa der Ostsee-Insel Saaremaa laufen einem noch respektlosere Finnen über den Weg; mit Schnapsflaschen in der Hand gehen und torkeln sie auf einem etwas anderen Kulturtrip.

In Helsinki können die finnischen Männer die Frauen kaum so respektlos behandeln, wie sie es in Tallin mit den Estinnen tun. Dort greift die Polizei auch etwas härter durch, wenn in der Öffentlichkeit Alkohol getrunken wird. Die Zahl der auf der Straße liegenden Betrunkenen steigt sichtlich an, am Hauptstadt-Bahnhof kann man schon morgens die ersten hilflos lallenden Koma-Trinker sehen. Das hätte die Polizei früher nicht zugelassen.

Ein bißchen scheint es aber so zu sein, als ob die Dämme des Alkohols jetzt brechen würden. Im vergangenen Jahr wurden 141.401 Betrunkene aufgegriffen. Würden die in einer Stadt wohnen, es wäre die sechstgrößte des Landes. Die Polizei hat nicht einmal mehr genug Ausnüchterungszellen. Deshalb gingen die Ordnungshüter dazu über, die Betrunkenen in Großzellen einzusperren. Auf einem nackten Betonboden zogen die Beamten weiße Kästchen, wo ihre hilflosen Landsleute ausnüchtern müssen. Das rief jetzt sogar den Europarat auf den Plan, der diese unmenschliche Methode als a human car-park bezeichnete und in einen „Folter-Report“ aufnahm. Der finnische Staat verstößt sogar gegen ein finnisches Gesetz von 1973, wonach es Entgiftungszentren geben müßte. Es gibt eines, das aber zu klein ist. Einem Bericht der staatlichen Monopolfirma „Alko“ zufolge tranken die finnischen Frauen und Männer noch nie so viel Alkohol wie jetzt. Dabei dürfte kaum mitgezählt worden sein, was da in Estland oder auf den Fähren konsumiert wird. In Finnland ist es jetzt wohl noch trauriger als je zuvor. Falk Madeja