„Kommt zum Weißen Haus und verteidigt euch!“

■ Kaum hatte Jelzin seinen Erlaß bekanntgegeben, versammelten sich vor dem Parlament die Verteidiger der alten Ordnung – doch die Passanten wollten sie nicht ernst nehmen

Noch während der Fernsehansprache Jelzins kamen die ersten Unzufriedenen zum „Weißen Haus“, dem Sitz des aufgelösten Obersten Sowjets. Wie beim Putschversuch gegen Gorbatschow vor zwei Jahren versammelten sich am Dienstag abend empörte Bürger, um die Demokratie zu verteidigen. Über Demokratie fiel diesmal allerdings kein Wort. Kleine Häuflein vorwiegend älterer Männer gruppierten sich um die Organisatoren mit den Lautsprechern, mit den roten sowjetischen Fahnen und den Losungen „Rettet die Sowjetmacht“.

Nur knapp 2.000 Demonstranten konnten die kommunistischen Parteien und Organisationen der Nationalen Rettungsfront zusammentrommeln, weniger noch als während der Demonstrationen im Frühling und Sommer dieses Jahres. Es kamen hauptsächlich die „Aktivisten“, die inzwischen pensionierten ehemaligen Staats- und Parteifunktionäre der zweiten Garnitur, die man jederzeit per Anruf zu einer Demonstration bestellen kann. Die jungen Leute dagegen, die vor zwei Jahren tatsächlich die Demokratie verteidigten, hatte niemand gerufen. Ihre Initiative spiegelte die Stimmung in der Bevölkerung wieder, nicht die der Randgruppen und Parteien. Damals auch brachten die Bewohner der Nachbarhäuser den Demonstranten Kaffee und Käsebrote. Diesmal waren dieselben Bürger empört: dieser „Quatsch aus den Lautsprechern“ habe sie die ganze Nacht gestört.

Nach einer kalten Nacht saßen die Versammelten am Morgen friedlich auf dem Gras vor dem Parlamentsgebäude, tranken Tee aus Thermosflaschen – und wohl auch Hochprozentiges. Die Veranstalter mit den Lautsprechern riefen empört: „Wozu seid ihr denn überhaupt gekommen? Das ist doch hier kein Picknick. Bildet Zehnerreihen, wählt die Ältesten, und zieht auf Posten!“ Niemand aber hatte vor, sie anzugreifen. Das Parlament habe sich selber belagert, sagte der stellvertretende Ministerpräsident Schumeiko. Eine kleine Barrikade hatten sie dennoch gebaut, neben der benachbarten U-Bahn-Station: mit ein paar Brettern mit herausstehenden Nägeln, so daß die Fahrgäste nur mit äußerster Vorsicht die Barrikade überwinden konnten. Die zur Arbeit eilenden Passanten schimpften auf „diese Verrückten“, hatten aber weder Lust noch Zeit, mit ihnen zu diskutieren. „Kommt zum Weißen Haus und verteidigt euch!“ rief ein „Aktiver“ auf dem Bahnsteig. Auf die erstaunte Frage, wer denn da wen angreife, antwortete er: „Leute wie Sie geht das gar nichts an.“

Tatsächlich gibt es nur wenige Moskauer an diesem Mittwoch morgen, die die Entmachtung des Obersten Sowjets empört. Nach einer Meinungsumfrage Anfang des Monats waren nur 24 Prozent der Befragten gegen eine Auflösung des Parlaments und Neuwahlen. Mindestens seit einem Jahr betrachtet man den Obersten Sowjet und insbesondere die Tagungen des Kongresses der Volksdeputierten als eine Art Zirkus, eine langweilige Fernsehshow, die mit der Realität nichts mehr zu tun hat. Die Mehrheit der Bevölkerung fühlt sich von den Abgeordneten nicht vertreten, wie auch das jüngste Referendum bewiesen hat. Im Volksmund heißen sie längst „diese Clowns“. Man nimmt sie einfach nicht mehr ernst. Deswegen gehen auch die Warnungen des Parlamentsvorsitzenden Chasbulatow und des Vizepräsidenten Ruzkoi vor dem kommenden Bürgerkrieg ins Leere.

Für eine Eskalation, einen Bürgerkrieg, müßte es schon eine bedeutendere Zahl chronisch Unzufriedener geben, die bereit wären, für ihre Rechte zu töten und zu sterben. Die Mehrheit der Russen aber unterstützt die Reformen. Die Altkommunisten und russischen Nationalisten bleiben eine Randgruppe, so gut wie ohne Wähler und Anhänger. Die kommunistisch-nationalistische Koalition hat es nicht geschaft, zu einer großen politischen Bewegung oder Partei zu werden, die mit den reformierten kommunistischen Parteien in Litauen oder Polen vergleichbar wäre. Nur durch einen historischen Zufall bekam sie das Übergewicht im russischen Parlament. Die erste Reaktion der Bevölkerung auf Jelzins Erlaß war Erleichterung. Zu lange schon dauerte der sinnlose Kampf um die Zukunft Rußlands, zu lange zögerte Jelzin. Dennoch ist die Politikverdrossenheit noch nicht ganz überwunden. Zuerst sah man Jelzins Rede in einer Live-Übertragung, dann einen Kommentar dazu in den Nachrichten, dann aber schalteten viele zu einem Krimi um – im krassen Gegensatz zum Putschversuch vor zwei Jahren. Damals hörte man rund um die Uhr die Kurzwellensender, die einzige Informationsquelle. Jetzt sind die Leute ruhiger geworden, ihr Privatleben ist ihnen wichtiger. Schon deswegen ist ein Bürgerkrieg unwahrscheinlich.

Ein Moskauer Geschäftsmann gab sich sehr empört über Jelzins Erlaß – aber nicht, weil der Präsident gegen die Verfassung verstoßen hätte. Auch nicht, weil er so unentschieden war und seine Gegner nicht verhaften ließ. „Wegen dieser Panik ist der Dollar auf dem Weltmarkt gestiegen. Ich habe mein Konto in Deutschland und bin um 2.000 Dollar ärmer geworden. Und à propos Ruzkoi: Chasbulatow kann ihn nicht nur zum Präsidenten, sondern gleich auch zum Zaren ernennen. Es spielt doch keine Rolle. Kaum jemanden interessiert es.“ Boris Schumatsky, Moskau