Auf der Zielgeraden zur Demokratie

Ein gewagtes Manöver war es, die Auflösung des Parlaments, die Rußlands Präsident Jelzin am Dienstag abend verkündete. Doch um Rußland aus dem lähmenden Patt der Gewalten herauszuführen, waren einschneidende Maßnahmen vonnöten.

In Rußland gibt es nun zwei Präsidenten. Den rechtmäßig vom Volk gewählten Boris Jelzin und seinen ehemaligen Stellvertreter, Vizepräsident Alexander Ruzkoi. Dieser ließ sich über Nacht vom eilig zusammengerufenen russischen Rumpfparlament als neuer Präsident vereidigen. Zuvor hatte Präsident Jelzin in einer Fernsehansprache die Auflösung der beiden gesetzgebenden Organe, des Obersten Sowjets und des Volksdeputiertenkongresses verfügt. Außerdem suspendierte er das Verfassungsgericht unter seinem Vorsitzenden Waleri Sorkin auf unbestimmte Zeit.

Jelzin begründete seinen riskanten Schritt mit der anhaltenden Sabotage und Obstruktionspolitik der Gesetzgeber, die im Land faktisch eine Doppelherrschaft errichtet haben. Beinahe jede politische Entscheidung der Regierung wurde durch einen gegenläufigen Beschluß der Legislative konterkariert. Bereits im August hatte Jelzin einen „heißen September“ angekündigt. Die Rädelsführer der Opposition, Parlamentspräsident Ruslan Chasbulatow und Ruzkoi, schienen gestern nacht auf das Vorgehen des Präsidenten einigermaßen vorbereitet. Nach seiner „Vereidigung“ als neuer Präsident, verlas der ehemalige Fliegergeneral eine Reihe von Ukasen. Er enthob Innenminister Jerin, den Chef des Sicherheitsministeriums und Verteidigungsminister Gratschow ihrer Ämter und ersetzte sie durch Leute seiner Wahl.

Auf Geheiß Ruzkois hatte der frisch ernannte Verteidigungsminister Wladislaw Aschalow Truppenteile mit Bajonetten zur Verteidigung des Weißen Hauses, dem Sitz des russischen Parlamentes beordert. Jelzins Verteidigungsminister Gratschow, der mit der Entscheidung des Präsidenten nicht glücklich gewesen sein soll, bekräftigte jedoch die Neutralität der Streitkräfte. Später fügte er hinzu, die Armee, werde sich erst zu Wort melden, wenn Blut fließe.

Für einen gewaltsamen Konflikt gibt es bisher keine Anzeichen. Die Bevölkerung nimmt die Eskalation des Machtkampfes zwischen der Exekutive und Legislative mit Gelassenheit hin. Außer einigen hundert „Verteidigern“ des Parlamentes, in ihrer Mehrzahl Altkommunisten und nationalchauvinistische Kräfte, brachte die Auflösung des Parlamentes keine Demonstranten auf die Straße. Auch die meisten Vertreter der russischen Provinzen unterstützen Jelzin.

Demgegenüber versuchten Parlament und das Verfassungsgericht Jelzins Vorgehen als einen „Staatsstreich“ zu geißeln. Noch in der Nacht änderten sie das Strafgesetzbuch, indem sie Strafen von zehn Jahren bis zur Todesstrafe für Verfassungsvergehen verhängten. Der Generalstaatsanwalt erhielt Order, Untersuchungen gegen Jelzins Mitstreiter aufzunehmen.

Den Befehl, der Regierung den Geldhahn zuzudrehen, erhielt Zentralbankchef Geraschtschenko. Doch auch dort wollte man sich dem Parlament nicht beugen: Man werde sich verhalten wie die Armee. Vermutet wird aber, daß Geraschtschenko im Ernstfall die Partei Jelzins ergreifen wird.

Beim Rundgang durch Moskaus Stadtzentrum sagte Jelzin in der Begleitung seines Innen- und Verteidigungsministers gestern mittag: „Natürlich wollen wir keine gewaltsamen Methoden anwenden. Wir wollen, daß alles friedlich verläuft, ohne Blutvergießen, das ist unsere Hauptaufgabe.“ Der Verteidigungsminister fügte später hinzu: „Nach Gesprächen mit seinen Kommandeuren, die sich wiederum mit ihren Untergebenen konsultiert haben, genieße Boris Jelzin als Oberkommandierender der Armee ihre volle Unterstützung.“

Bürgerkriegsparolen und das Heraufbeschwören von blutigen Auseinandersetzungen zählen nun seit einem Jahr zu den propagandistischen Standards der parlamentarischen Opposition. Die Bevölkerung Rußlands ist heute jedoch weit davon entfernt, sich zu kriegerischen Aktionen hinreißen zu lassen. Nicht zuletzt kann man die Resultate des Aprilreferendums als Beweis dafür nehmen, daß sie die Politik Jelzins in großen Teilen mitträgt. Und auch die Armee wird nicht vorschnell in den politischen Kampf aktiv eingreifen. Die Erfahrungen während des Augustputsches der Kommunisten 91, als die Soldaten plötzlich unbewaffneten Bürgern gegenüberstanden, dürften ihr eine Lehre gewesen sein. Dennoch war Jelzins Aktion ein gewagtes Manöver. Bevor die Sicherheitskräfte Flagge zeigen, warten sie gewöhnlich ab, bis sich die Waage auf eine Seite neigt. Um Rußland aus dem lähmenden Patt der Gewalten herauszuführen, waren einschneidende Maßnahmen allerdings vonnöten. Gerade die Bevölkerung erwartete von Jelzin eine klare Position. Sollte es wider Erwarten doch noch zu Rückschlägen im gegenwärtigen Machtkampf kommen, wird sie sich nicht zweimal auffordern lassen, ihren Willen auch auf der Straße lautstark zu vertreten.

Doch wie geht es zunächst in Moskau weiter? Jelzin kündigte für den 11./12. Dezember Parlamentsneuwahlen an. Bisher liegt jedoch noch kein Wahlgesetz vor. Das soll die Verfassungsversammlung als höchstes gesetzgebendes Interimsorgan erst erarbeiten. Die Versammlung war ursprünglich im Juni zusammengerufen worden, um eine neue Konstitution auf den Weg zu bringen. Der Neuentwurf sah einen Volksdeputiertenkongreß nicht mehr vor. Das war es, was Chasbulatow, Ruzkoi und ihre Klientel fürchteten: Sie haben vornehmlich die Absicherung ihres privilegierten Status quo im Auge.

Wie die Erfahrungen der letzten Monate gezeigt haben, werden die Widersacher sich nicht einfach geschlagen geben. Auch nach einer erneuten Niederlage nicht. Sie abzuurteilen auf der Grundlage der gültigen Verfassung wäre ebenso fragwürdig, wie Jelzins Umgehung der Verfassung. Ihnen den Mund zu verbieten, würde andererseits die Vermutungen nähren, Jelzin verfolge tatsächlich einen diktatorischen Kurs.

Andererseits kann die Regierung die ständige Wühlarbeit und Hetze der Revanchisten nicht länger dulden. Äußerungen, wie die Ruzkois, der die UdSSR wiederentstehen lassen möchte, müßten eigentlich strafrechtlich verfolgt werden können. Hier ist Fingerspitzengefühl gefragt, nicht unbedingt eine Sache Jelzins und seiner liberalen Entourage. Zeichnet sich jedoch die endgültige Niederlage der Legislatoren ab, gibt es andererseits keine Veranlassung für Jelzin, zum x-ten mal nach einem Kompromiß zu suchen.

Welche Kräfte sich im Dezember zur Wahl stellen, ist völlig ungewiß. Zwar verfügt Rußland über eine bunte Parteienlandschaft, doch keine dieser Kleinstparteien kann sich auf eine tragfähige soziale Basis berufen. Wahrscheinlich werden sich Wahlblöcke bilden, an deren Spitze halbwegs prominente Aktivisten des demokratischen Aufbruchs stehen. Erst jetzt eröffnet sich die Gelegenheit, von neuem gestaltend in die Politik einzugreifen. Jelzin mußte handeln, um die Demokratie in Rußland zu retten. Klaus-Helge Donath, Moskau