"Wir wollen einfach etwas anderes"

■ Nach den Erfahrungen mit der DDR-Einheitsschule findet die alternative Waldorfpädagogik in Ostberlin großen Anklang

Nach Örtlichkeiten, die nicht mehr zu finden und zudem in unguter Erinnerung sind, werden nur selten Schulen benannt. Die Benennung der „Freien Waldorfschule an der Mauer“ war auch im eigenen Kollegium immer wieder umstritten. Doch gerade dieser Standort ist für die LehrerInnen eine reizvolle Herausforderung gewesen, die Grenze auch in den Köpfen zu überwinden.

Seit dem Herbst 1990 wird in der Dresdner Straße in Berlin- Mitte unterrichtet. Bis zur achten Klasse sind die Jahrgangsstufen bisher schon aufgebaut. Die Oberstufe der einzügigen Waldorfschule, die nach 12 Jahren den Realschulabschluß, nach 13 Jahren das Abitur ermöglicht, ist also erst in Planung. Anders als im dreigliedrigen Schulsystem werden die Schüler bis zum Abschluß zusammen unterrichtet. Auch andere Waldorf-Markenzeichen wie der Verzicht auf Noten und Lehrbücher gehören „an der Mauer“ zum Schulalltag. Das Konzept der Waldorfschule findet im Osten großen Anklang. In den vergangenen Jahren kamen auf die knapp dreißig Plätze der ersten Klasse jeweils über achtzig Bewerbungen.

Angefangen hat alles in der Wendezeit 1989/90. Damals sah die Anthroposophische Gesellschaft in der DDR erstmals die Möglichkeit, Waldorfschulen im Osten aufzubauen. Dankmar Bosse, der schon lange bei den Ostberliner Anthroposophen aktiv ist, erinnert sich an überfüllte Hörsäle, in denen sich DDR-LehrerInnen nach Ausbildungsgängen in Waldorfpädagogik erkundigten. „Nach den Nöten in der sozialistischen Schule“, resümiert Bosse, „hatten viele Lehrer eine tiefe Sehnsucht nach Wahrhaftigkeit, nach Menschenerkenntnis.“ Auch bei den Eltern war das Interesse für die alternative Schulform sehr groß. Konkrete Vorstellungen von der Waldorf-Pädagogik hatten zunächst nur wenige. „Wir wollen einfach etwas anderes“, hat Bosse oft gehört. Viele erfahren erst durch ihre Kinder, worin die Besonderheiten der auf Rudolf Steiner zurückgehenden Pädagogik bestehen. Volker Kionke, Lehrer und Mitglied der Schulleitung „an der Mauer“, hat dies oft beobachtet. Der christliche Unterricht und die erwünschte Mitwirkung der Eltern bei der Selbstverwaltung träfen bei Ostdeutschen öfter auf Unverständnis als im Westen. Letztlich meldet aber kaum jemand deshalb sein Kind ab.

Die Einführung des Westberliner Privatschulgesetzes kurz nach der Aufnahme des Unterrichtsbetriebs 1990 bedeutete eine gravierende Umstellung. In finanzieller Hinsicht habe die Rechtslage in der DDR nach der Wende „theoretisch bessere Bedingungen geboten“, bedauert Kionke. Das 1990 geschaffene Gesetz über „Schulen in freier Trägerschaft“ sah eine 90prozentige Gesamtförderung durch den Staat vor. Nach dem West-Recht gibt es in der Aufbauphase nur 85 Prozent Zuschüsse im Personalbereich. Die Folge ist ein monatliches Schulgeld, dessen Durchschnittshöhe bei 140 Mark liegt, jedoch nach sozialen Kriterien gestaffelt ist.

Das Einzugsgebiet der Freien Waldorfschule erstreckt sich über den ganzen Ostteil Berlins. Erst seit kurzem gibt es eine zweite Waldorfschule – in Treptow. Die Schule in Mitte besuchen auch Westberliner Kinder. Das Lehrerkollegium ist ebenso gemischt, auf beiden Seiten kommt die Mehrheit aus dem Osten. Manche Vorstellungen vom Westteil zerbrachen an der Realität. So gab es mit den BewohnerInnen der benachbarten Wagenburg an der Waldemarstraße Konflikte wegen Drogengebrauchs. „Das war nun ein völlig anderes Bild vom Westen, als man im Kopf hatte“, sagt Kionke.

Doch das Denken in Ost-West- Kategorien läßt nach. Oft setzt sich nach kontroversen Diskussionen im Kollegium weder der eine noch der andere durch. „Das ist das Schöne“, findet Kionke, „daß sich dann in fast allen Dingen eine ganz neue Position ergibt.“ Bei den SchülerInnen gebe es das Blockdenken gar nicht mehr. „Klischeeverhalten kommt zwar vor, ist aber eher von Medien oder Eltern adaptiert“, glaubt der Pädagoge.

Vor allem unter den Wessis sind viele ausländische Kinder. Einen türkischen Paß hat jedoch niemand von ihnen. Gerade türkische Kinder aus dem angrenzenden Kreuzberg kommen nämlich gerne auf den Spielplatz der Waldorfschüler und fragen: „Dürfen wir auch zu euch auf die Schule gehen?“ Ein paar türkische Mütter waren schon in der Schule und haben sich informiert. „Es wird dann aber doch zurückgeschreckt“, hat Kionke festgestellt.

Größtes Problem der Schule ist der Raumbedarf für die absehbare Erweiterung bis zur Jahrgangsstufe 13. Das idyllisch, etwas versteckt gelegene Hauptgebäude, das sich zu Ost-Zeiten in der Hand der Stasi befand, reicht schon für das heutige Lehrangebot nicht aus. So errichtete die Schule selbst zwei Leichtbauten. Der Erwerb von Nachbargrundstücken wird auch hier durch die strittigen Eigentumsverhältnisse im Mauerstreifen blockiert. Deshalb hat die Schulleitung die Erweiterungspläne deutlich eingeschränkt. Kionke wurde von KollegInnen an anderen Waldorfschulen bereits gewarnt, „mit so wenig Platz ginge das eigentlich nicht mehr“. Matthias Fink