Metaphorische Tänze

Gemischte Gefühle zur Spielzeiteröffnung beim Schauspiel Bonn  ■ Von Gerhard Preußer

Tanz ist Bewegung, ist Schönheit, ist Harmonie, ist Ekstase. Tanz ist Leben, Tanz ist Kunst.

Das metaphorische Potential des Tanzes scheint unerschöpflich. Das Bonner Schauspiel hat mit seinen beiden ersten Inszenierungen dieser Spielzeit zwei Aufführungen zusammengekoppelt, in denen das Theater sich nicht mit seiner Schwesterkunst vermischt, sondern sie sich als Sinnbild unterordnet. Nicht Tanztheater, sondern Theatertanz. Die Tänze sind nicht echt, sondern nur bedeutungsvoll.

Tanz ist paradiesische Eintracht in Botho Strauß' „Bekannte Gesichter, gemischte Gefühle“. Die in einem heruntergekommenen Hotel in Königswinter (gerade gegenüber auf der anderen Rheinseite von Bad Godesberg, wo das Bonner Schauspiel seinen Sitz hat), versammelten Gesichter haben die tristen Minen der uns vertrauten Paare: gewohnte Disharmonie, unklare Verbindungen, bequeme Verzweiflung – bekannte Gefühle des altbundesrepublikanischen Mittelstandes. Da hat sich in den fast zwanzig Jahren seit der Uraufführung des Stückes wenig geändert. Der Glaube an die „unbeirrbare Harmonie“ des hohen Paares hat sich in die artistische Bewegungstechnik des Gesellschaftstanzes gerettet. Die uns und einander gut Bekannten sind Amateurtanzsportler und deren Fans. Doch das Traumpaar Doris und Guenther stürzt, und erst als die reale Doris auf zauberische Weise durch eine identische Replik, Doris II, ersetzt wird, erkennen Tanzpartner Guenther und Ehemann Stefan ihre alte, „echte“ Doris wieder. Stefan übersteht diese Epiphanie des Ideals seiner Ehefrau nicht: nach ihrem Verschwinden stirbt er freiwillig den Kältetod im Tiefkühlfach. Der zarte Anhauch seiner realen Gattin und die Hoffnung auf wärmere Zeiten können ihn nicht mehr retten.

Valentin Jekers Inszenierung bemüht sich redlich, dem reichlich verrätselten Frühwerk unseres westdeutschen Erfolgsdramatikers mit interpretatorischen Hilfestellungen beizuspringen. Am rechten Rand verunziert ein Fernsehgerät die Bühne und weist uns immer wieder auf das Thema „Realität der Simulation“ hin. Wenn Stefan, der Besitzer, vom Bankrott seines Hotels berichtet, schnipst Karl, der mysteriöser Zauberer und verunstaltetes Opfer in einem ist, mit den Fingern, und auf dem Bildschirm sieht man den Alptraum der Bonner vorüberflimmern: einstürzende Neubauten, gesprengte Büropaläste. Der Genius loci inspirierte den Regisseur zu einigen Scherzen, immerhin.

Im Gegensatz zu den wenigen früheren Inszenierungen des Stückes bemüht sich Jeker nicht um detailgenauen Realismus, sondern um Komik und Symbolik. Doris I trägt ihre ironische Absage an den deutschen Turniertanz als Solonummer mit wildem Discogehopse vor. Guenther rauht sich die Ledersohlen seiner Tanzschuhe mit der Gabel auf, und Stefan, sein um Freundschaft bemühter Arbeitgeber, kratzt hilfsbereit und gedankenverloren mit. Wenn die gemischte Gesellschaft am Ende verstört in Mänteln um den aufgebahrten Eisblock Guenther herumsteht, flackert in der Flimmerkiste ein Disney-Trickfilm vorbei: lustiger Medientrost für den Gefühlskältetod.

Schauspielerisch kann sich vor allem Patricia Harrison als Doris I profilieren, hat sich doch mit Karin Klein als Doris II ein fast perfektes Double, das, optisch identisch, im schauspielerischen Detail jedoch gerade nicht das Original von Doris I erreicht. So wird die Umkehrung des Verhältnisses von Bild und Abbild im Text auf der Bühne noch einmal umgekehrt: Die falsche Doris, die die wahre sein soll, ist schauspielerisch doch ein Imitat.

„Na – wird's ein Gähnen, wird's ein Schrei?“ fragt sich Hedda, während sie Stefan zuschaut. Bei den Bonner Zuschauern des Stückes wurde es ein meckerndes Lachen und ratloser Beifall, gleichweit entfernt vom Gähnen wie vom Schrei.

Tanz ist der Kampf ums Überleben in „Marathontanz“. Über den Autor dieses Stückes herrscht etwas Unklarheit. Am Anfang stand 1935 der Roman „They Shoot Horses, Don't They?“ von Horace McCoy, berühmt wurde dessen Verfilmung durch Sidney Pollack 1969. Andres Müry hat danach eine Theaterfassung verfertigt, die sich in Dramaturgie und Wortlaut eng an den Film anlehnt, und die finnische Gastregisseurin Katariina Lahti hatte nun in der Halle Beuel des Bonner Schauspiels eine Inszenierung „unter Verwendung der Fassung von Andreas Müry“ herausgebracht: das Theaterstück als Endstadium einer medialen Verwurstungskette. Der Hintergrund des Stückes ist dokumentarisch: es schildert einen Marathontanzwettbewerb, wie er während der Weltwirtschaftskrise in den dreißiger Jahren als Unterhaltungsspektakel in Mode war. McCoy stellte ans Ende des Tanzmarathons nicht den Sieg, sondern die Niederlage: der Protagonist tötet seine vom Leben enttäuschte Zufallstanzpartnerin auf ihr eigenes Verlangen hin. „Nur Pferden gibt man den Gnadenschuß“ hieß der deutsche Filmtitel, Arbeitslosen nicht, war die unausgesprochene Fortsetzung, an ihrem Leiden weidet man sich noch. Der Zuschauspaß des proletarischen Publikums war der am Untergang der Schwachen, die nicht durchhielten, ein Vergnügen, das auch heute jeder Zuschauer von Fernsehshows hat, bei denen die Demütigung der Mitspieler immer als Vergnügungsquelle eingeplant ist.

Das zwiespältige Vergnügen der Zuschauer der Bonner Aufführung besteht nun darin, sich mit den Originalzuschauern der dreißiger Jahre zu identifizieren. Man darf denselben Kitzel des Elendsvoyeurismus spüren wie die damals und darf sich zugleich empören über die Ausbeutung der Armen und die schlimmen Auswüchse freien Wettbewerbs.

Nach 1.306 Stunden verläßt das demoralisierte Paar die Tanzveranstaltung im Stück. Schauspieler und Zuschauer sind da glücklicher. Die Uhr über dem Spielfeld läuft nicht in Echtzeit, und schon nach 21/2 Stunden ist die Show vorbei. Dennoch ist die Inszenierung eher nach sportlichen Kriterien zu bewerten: 31 Schauspieler, zahlreiche Gesangs- und Tanzeinlagen, Zeitlupensequenzen, Drehbühne, ein veritabler Männerstrip, eine Band mit echtem Swing-Jazz, kurz: keine Marathon-, aber eine Mammutveranstaltung, die in der großen alten Fabrikhalle genau am richtigen Ort ist.

„Reine Unterhaltung?“ fragt sich der Manager des Tanzwettbewerbs im Stück und gibt sich selbst die abschlägige Antwort: „Allzu realistisch.“ So hat man die Lizenz, sich getrost unterhalten lassen zu dürfen, von dem, was auch heute noch realistisch ist.

Botho Strauß: „Bekannte Gesichter, gemischte Gefühle“. Schauspiel Bonn (Kammerspiel). Inszenierung: Valentin Jeker. Bühne: Vincent Callara. Weitere Vorstellungen: 25., 26.9., 9.10.

Horace McCoy/Andreas Müry: „Marathontanz“. Schauspiel Bonn (Halle Beuel). Inszenierung: Katariina Lahti. Bühne: Kati Lukka. Weitere Vorstellungen: 24., 25., 28., 29.9.