Ein Date mit Melitta

Berlins einzige Soul-Tunte der Welt ist tot. Melitta Sundströms erste CD ist zugleich ihr Vermächtnis  ■ Von Klaudia Brunst

Sehr harmlos kommt sie daher, klein, rund, glitzernd. Ein Ticket durch eine lange Nacht. Der Recorder blinkt, die CD rotiert, der Synthi schießt die ersten Akkorde in die Boxen. Und aus deiner Beletage-Wohnung wird ein subkulturelles Hinterzimmer, aus Heinz wird Helga, und das Deckenlicht schimmert doch tatsächlich plötzlich rosa: Ein Zug durch die Gemeinde beginnt – eine Nacht, die man nicht vergessen wird. Schrill, schwul und entsetzlich subkulturell.

Melitta Sundström ist tot, diese Nacht ist Konserve. Vier Tage, nachdem ihre erste CD auf den Markt kam, ist sie an den Folgen ihrer Aids-Erkrankung gestorben. Auf den Brettern, die ihr bis zum Schluß die Welt bedeuteten, holt uns Berlins einzige Soul-Tunte der Welt nun ein letztes Mal zu einem Zug durch die Gay Community ab. Die langen Beine stehen wieder auf den noch längeren Pumps, die Perücke sitzt akkurat, aus Thomas Gerards ist die Diva geworden, die „es geschafft“ hat. Neben ihr wacht der kleine Lieblingssynthi, du siehst ihn genau vor dir, sechs Jahre hat er auf Geheiß ihrer lackierten Fingernägel die lustigen Akkorde Bit für Bit ausgespuckt. „Let's talk about sex, Baby!“ lautet die rhythmische Botschaft. About Love and Blues. About Aids.

Als Melitta ins Studio ging, um ihre erste CD „Sundström“ einzuspielen, war sie schon schwer krank. Es muß ihr klar gewesen sein, daß dies ihr letzter Auftritt sein würde. Die Bühne war für die Diva schon länger passé, eine zweite Adresse auf der Aids-Station des Berliner Auguste-Viktora-Krankenhauses war unumgänglich geworden. „Danke, danke, danke ... an HIV. e.V.“, steht auf dem CD-Cover, „niemand hält die Wohnung sauberer.“ Und falls sie in aller Eile in der Danksagung jemanden vergessen haben sollte ... schreibe der sich doch bitte noch selbst unter die lange Liste. Kein koketter Scherz. Wohl eher Anzeichen für den Wettlauf des Abschiednehmens.

Noch einmal folgt dein CD- Player Melittas Spuren nach, vor allem ihrem erfolgreichen Bühnenprogramm „Ein Leben im Liegen“, jener sehr eigenwilligen Widerspiegelung der schwulen Subkultur aus dem vergangenen Jahr. An den gängigen Disco-Hits der Szene hangelt sich die Platte entlang, macht Laune und Lust auf Gay-Life. Aus „Muscles“ wird „Kassel“, die Orgel mischt sich in diesem virtuosen Dilettantismus mit dem Elektro-Klavier, die coole bass line legt sich wie von selbst drunter – und Melittas Baritonstimme darüber.

Und dann philosophiert die Diva aus Bad Kreuznach über Dietrich, der zwar nicht gut riecht, aber ihre sommerlich starken Triebe auf der Klappe immer so wunderbar befriedigt, über die unschätzbaren Vorteile des Großstadtlebens und die schale Leere nach dem anonymen Klappen-Sex. Melancholie eines schwulen Alltags, in Cover-Versionen transvestistisch verpackt, selbstironisch präsentiert.

Du hörst hin, du hörst zu, und wenn sie dann ihre softe Version von „What a difference a day makes“ anstimmt, möchtest du deinen Teppich beiseite scheiben und mit deiner Geliebten mal wieder so richtig romantisch über die abgezogenen Dielen schwofen. Ganz einfach nur so für dich und für sie.

Dann, am Montag nacht aber, streifst du mit Mignon und Melitta durch die Havanna-Bar, aufgedonnert wie die Andrew-Sisters, obenrum wattiert wie die legendären „Ladies Neid“. Und wenn dich schließlich nach etlichen Drinks die Disco-Version von Esther Philipps' „What a difference ...“ ins Bermuda-Dreieck zwischen Lipstick, Coconut und Heaven gezogen hat, wenn du wieder an den Segen der Promiskuität glaubst (vorausgesetzt, du gehst endlich mal wieder ins Hantel-Studio) und froh über deine eigene Perversion bist, dann ist die CD erst zur Hälfte abgespielt, und du hast fast vergessen, wie kurz das Leben sein kann.

„Nach einem halben Jahr in San Fransico kam ich zurück“, schreibt Melitta im CD-Booklet, „und mir blieb so ziemlich alles, was ich in den USA an ,Lebensart‘ gelernt hatte, im Halse stecken.“ Polette, einer ihrer besten Freunde – und in Berlin der „Motor“ der Pflegestation HIV e.V. –, war inzwischen an Aids erkrankt. Der Song „Du bist fort“ ist Polette gewidmet. Entsetzlich abrupt ist der fröhliche Zug durch die Gemeinde vorüber, unvermeidlich ist die Sonne des nächsten Tages aufgegangen, verkatert und entsetzt stehst du im kleinen Schwarzen auf der Straße und frierst.

„Vergessen“ ist jetzt nicht mehr möglich, gnadenlos klagt Melitta die Auseinandersetzung mit dem Undenkbaren ein: „50 ways to leave your lover“ – nie mehr wirst du das Original hören können, ohne an die vielen Todesanzeigen in den Schwulen-Magazinen zu denken. Und noch immer ist dein Date mit Melitta nicht vorbei, nichts – aber auch gar nichts verharrt sittsam hinter der Tabugrenze. Viel tiefer als du es wahrhaben willst, sind die Abgründe der schwulen Subkultur, gnadenlos dreht sich der Laserkopf weiter: „Raus hier“ – das sind fünf schreckliche Minuten Krankenhaus-Blues, die die Macht des Virus im Taktmaß eintöniger Tagesabläufe akkurat vermessen. Die bass line hat jetzt ihr Saturday- night-fever endgültig verloren, zäh und hartnäckig mischt sich die Gitarre in die fiebrige Stimmung ein, Mignon und Maria legen ihren Chorus mit aller Kraft über die unüberhörbare Verzweiflung.

„Und so geht das dann jeden Tag ...“ – bis die Diva es endlich geschafft hat. Klerikal meldet die Orgel im letzten Lied ihre unanzweifelbare Vorherrschaft an, wieder stehen wir irgendwo in Frisco, diesmal aber in einer ganz anderen Community. „A chance ist gonna come“, weiß Thomas Gerards, „I go to my brothers.“ Vorsichtig steigst du ein in den langsamen Gospel-Rhythmus, möchtest traurig die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, dich sprachlos in Ratlosigkeit wiegen, da nimmt die Diva ihre Trauergemeinde noch ein allerletztes Mal an die Hand, führt dich um die finale Ecke des subkulturellen Dschungels: „I get joy, when I think about it“, tröstet uns eine jetzt wieder sehr klare Stimme, und wir alle müssen nun gefälligst tapfer sein und wieder aussteigen aus diesem tiefen schwarzen Loch. Es gehört Melitta jetzt ganz allein.

Melitta Sundström: „Sundström“. LiedStrich 1993. Zu beziehen über LiedStrich e.V., Hasenheide 54, 10967 Berlin