Ironischer Zuschauer seiner selbst

■ Erhellendes über Fernando Pessoa in der Nachkantine des Schauspielhauses

Sein Porträt ziert den portugiesischen Hundert-Escudo-Schein, mehrere Straßen des Landes sind nach ihm benannt. Sein Name: Fernando Pessoa. Oder doch Alberto Caiero, der einfache Poet und Autodidakt? Oder Ricardo Reis, der Arzt und Monarchist, gar Alvaro de Campos, der avantgardistische Dichter? Der portugiesische Dichter Fernando Pessoa (1888 - 1935) hatte zahlreiche Identitäten. Die rätselhafte Existenz des genialen Portugiesen suchte Peter Hamm am Mittwoch in der Nachtkantine des Schauspielhauses zu entwirren.

Sei vielgestaltig wie das Weltall hieß der Vortrag Hamms, der mit diesem Satz auch die Lebenssehnsucht Pessoas umschreibt. Der Dichter, der bis zum Tode an Lebensüberdruß litt, begnügte sich Zeit seines Lebens nie mit nur einer Identität, er entwarf zahlreiche fiktive Personen, seine Heteronyme. Jeden von ihnen versah Pessoa mit einer eigenen Biographie, einem unverwechselbaren Charakter, mit Berufen und Krankheiten, jedoch nie mit (Liebes-) Beziehungen. Mit dem Buch der Unruhe seines erdachten Autors Bernardo Soares avancierte Pessoa in Deutschland zum Kultautor.

Der Vortrag des Müncher Literaturkritikers Hamm gab einen Einblick in die Persönlichkeit Pessoas und sein umfangreiches Werk. Ohne ein einziges Mal psychologische oder klinische Begriffe zu benutzen, umriß Hamm, der eine Dokumentation über Pessoa für den hessischen Rundfunk drehte, den Lebensweg des Dichters. Er erzählte von dem jungen Pessoa, der im Alter von fünf Jahren seiner Mutter ins südafrikanische Durban folgen mußte, dort von irischen Nonnen englischsprachig erzogen wurde und mit sechs Jahren seinen ersten nicht-existenten Bekannten erdachte. Stets der „ironische Zuschauer seiner selbst“, so Hamm über Pessoa, verschmolz der Dichter beinah mit seinen Heteronymen: „Ich habe sie so stark erlebt, ich muß mich anstrengen, mich von deren Gegenteil zu überzeugen“, schrieb Pessoa an einen Freund.

Pessoa selbst lebte eine freudlose, jämmerliche Existenz. Mit 17 kehrte er nach Lissabon zurück, und fristete dort sein offizielles Dasein als Übersetzer. „Das Leben ist Reise genung“, läßt er sich als Soares schreiben - das Leben, „der unbequemste aller Selbstmorde“. Pessoa verließ bis zu seinem Tod Lissabon nicht mehr. Im Alter von 47 Jahren starb er an den Folgen seines Alkoholismus.

„Der Kult um Pessoa mag ähnliche Wurzeln haben wie der um Kafka nach dem Krieg“, vermutet Hamm. Damals wie heute sei die existentielle Sorge der Zeit getroffen, denn „wir fühlen uns alle vereinsamt, und wer meint denn noch, nur ein „Ich“ zu haben?“

Katrin Wienefeld