■ Filmstarts à la carte: Jetzt nicht hinschauen, bloß jetzt nicht hinschauen
Es gab eine Zeit im Leben vieler steinalter Menschen, in denen sie mehrmals pro Woche oder jedenfalls einige Male im Jahr den Film Wenn die Gondeln Trauer tragen besuchen mußten. Im nachhinein ist nicht mehr so ganz klar, was mehr Anziehungskraft hatte: die nach innen gedrehten Augen der blinden Seherin oder die sehr langsam anlaufende Zzzzzexxxszene „zwischen“ Julie Christie und Donald Sutherland, bevor alles sich gegen sie wendet. Aber auch der Anfang ist nicht zu verachten. Eine amerikanische Familienszene, wie sie sich Newt Gingrich nicht harmonischer würde erträumen können, aber irgend etwas stimmt nicht. Man sieht dann einen permanenten Schnittwechsel zwischen dem im roten Lackmäntelchen auf den kleinen Teich zu laufenden Kind, Paps Sutherland beim Betrachten eines Dias und Mutter Christie beim Kaffeekochen. Dann geht alles ganz schnell: eine Tasse bricht, das Kind fällt in den Teich, auf Nimmerwiedersehen, wie man irgendwie schon ahnt, und eine Art Blutstropfen läuft über das Dia. Das Meisterhafte an dieser Exposition ist ihre Überfülle an Schlüsseln – aus Psychoanalyse, Ikonographie (Sutherland ist Restaurator von Renaissancekirchen) und Hitchcockiger Dramaturgie – so daß man genau weiß: keiner von ihnen wird einem weiterhelfen. Man gibt von da ab das Detektivsein auf und überläßt sich den bangen Ahnungen. Das Paar fährt nach Venedig (haben Sie jemals versucht, sich in Venedig zu verloben? Wir raten ab! Die Ringe werden von unwilligen Amanti ins Wasser geworfen!). Unvergeßlich auch die langsamen Fahrten auf den Gondeln, die etwas vom Überqueren des Styx haben. Einmal treiben Ehemann und Ehefrau auf verschiedenen Booten aneinander vorbei, sie mit dem Blick bereits im Jenseits ...
Die Zielgruppe von Out – Stories of Lesbian and Gay Youth ist wahrscheinlich der erotisch unentschiedene Jugendliche, der über eine anonyme und zugleich vertrauenerweckende Quelle Mut zugesprochen bekommen sollte. Verschiedene Jugendliche erzählen – im selben Duktus, wie man vielleicht über Verkehrserziehung sprechen würde – von ihren Erfahrungen beim Coming- out. Die meisten sagen: „I always knew I was gay“, oder „I knew I was gay since I was four years old“ (wow! andere Leute wissen in diesem Alter noch nicht mal ihre Versicherungsnummer). Der Film ist von einem eindeutig pädagogischen Sesamstraßenimpuls getragen, allerdings leider gänzlich ohne deren Humor. Ein Schelm, ein schändlicher, wer trotzdem darüber lacht, wenn sich eine Angehörigengruppe trifft: „Mein Sohn ist schwul. Es ist o.k. Es ist o.k. Es ist o.k.“
Ebenfalls einem Sesamstraßen-Sentiment, aber aus der sozusagen entgegengesetzten Quelle, entspringt Floundering. Weiße Jungs bringens doch. Hier muß einer von ihnen durch die Hölle (und die Hölle ist schwarz und schwul), um schließlich als mehr oder weniger ganzer Mann im eigenen Bett zu landen – um eine Erfahrung reicher, von der er sich nicht sicher ist, daß es seine ist ...
Und wie gesagt: Das Interfilm- Fest stellt heute mehrere Kurzfilme zum Thema Sex, Lies and Viedeotapes vor. Später folgt dann Weiningers Nacht, die Story des jüdischen Wiener Kaffeehaus-Literaten, der Antisemitismus mit Mysogynie verband. Heute ist auch der Vortrag von Norbert Bolz zum Thema „Das Böse“, während morgen Gerburg Treusch-Dieter über „Den Trieb“ sprechen wird. Am Samstag wird Birgit Heins Reisefilm Baby I Will Make You Sweat, Heins Versuch, sich aus erotischer Verödung in den eigenen Breitengraden nach Jamaica zu retten, wo sie in Hotelzimmern alles mögliche findet. Ob das Gesuchte dabei ist, ist dann vielleicht nicht mehr ganz so wichtig.mn
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