„Beißhemmungen bei Stahmer überwinden“

■ Die Krise der SPD wird auch für die Bündnisgrünen zum Problem. Längst hat man sich mit fünf weiteren Jahren auf den Oppositionsbänken abgefunden.

„Der Wechsel ist fällig“, heißt es überall in der Stadt auf den Wahlplakaten von Bündnis 90/Die Grünen. Doch was tun, wenn einem der Partner abhanden kommt und Rot-Grün angesichts der Selbstdemontage der SPD von der Reformalternative zur Lachnummer verkommt?

Wird die Alternative zur Lachnummer?

„Wir wollen das Vakuum ausfüllen, das die SPD in der Stadt hinterläßt“, gibt der Fraktionsvorsitzende der Bündnisgrünen, Wolfgang Wieland, als Strategie aus und schätzt das zwischen SPD und Grünen schwankende Wechselwählerpotential auf 10 Prozent. Doch bei aller Unwägbarkeit des tatsächlichen Wahlausgangs sprechen die Demoskopen derzeit eine andere Sprache. Die Krise der SPD ist auch für die Bündnisgrünen zum Problem geworden. Denn seit kaum mehr jemand mit dem Wechsel von Schwarz-Rot zu Rot- Grün rechnet, nimmt Meinungsumfragen zufolge auch der Wählerzuspruch für die Bündnisgrünen ab. Bei über 15 Prozent sahen die Meinungsforscher die Bündnisgrünen noch im August. Inzwischen liegen sie ein bis zwei Prozentpunkte darunter. Damit liegt die Partei zwar fast zwei Punkte vor dem besten Ergebnis der AL von 1989, doch nennenswerte Einbrüche in die SPD-Erbhöfe gelingen ihr nicht. Die Bündnisgrünen sind hinter die PDS zurückgefallen und würden somit auch das zweite Wahlziel, stärkste Oppositionspartei in der Stadt zu werden, verfehlen. Selbst rechnerisch ist man von einer rot-grünen Mehrheit weit entfernt.

Der Niedergang der SPD ist auch für die Bündnisgrünen zum Demobilisierungsfaktor geworden. Ihre strategische Option, sich als kleiner Partner für eine Reformregierung attraktiv zu machen, droht zur strategischen Falle zu werden, wenn die SPD kurz- oder langfristig als Partner ausfällt. Warum sollen Unentschlossene und Wechselwähler die Bündnisgrünen wählen, wenn man auch damit die SPD nicht zu ihrem Glück zwingen kann? Wenn sich also sowieso nichts ändert, warum soll man dann überhaupt wählen gehen? Vor allem die Ostberliner wählen dann doch die PDS; die ihnen mehr als einen Regierungswechsel verspricht. Doch zehn Tage vor dem Showdown am 22. Oktober sieht der Sprecher der Berliner Bündnisgrünen, Christian Ströbele, keine Veranlassung, die Wahlkampfstrategie zu ändern. „Erst am 22. Oktober abends wird abgerechnet.“

Hoffen auf Stahmers Bekenntnis zu Rot-Grün

Und der Fraktionsvorsitzende der Bündnisgrünen im Abgeordnetenhaus, Wolfgang Wieland, outet sich als „hoffnungsloser Optimist“, indem er an Stahmer appelliert, sich in den letzten Tagen des Wahlkampfs mit einem „klaren Bekenntnis zu Rot-Grün“ noch eine Reformstimmung in der Stadt zu entfachen.

Doch heute beteiligen sich die Sozialdemokraten an dem größten Affront gegen Rot-Grün in der heißen Phase des Wahlkampfes, auch wenn der Bundeskanzler und der regierende Bürgermeister dem sozialdemokratischen Bausenator Wolfgang Nagel den ersten Spatenstich für den Tiergartentunnel aus der Hand genommen haben. „Das ist der Sargnagel für die SPD“, glaubt die Bündnisgrünen- Abgeordnete Renate Künast. Und während die SPD dem Glauben anhängt, sie könne mit solcher Betonpolitik die politische Mitte gewinnen, gibt der Baubeginn für den Tiergartentunnel den Bündnisgrünen Gelegenheit, sich auf der anderen Seite der Absperrungen in der Oppositionsrolle zu profilieren. Denn auch wenn die Bündnisgrünen im Wahlkampf weiter auf den Wechsel setzen, glaubt in der Parteizentrale und im Abgeordnetenhaus hinter vorgehaltener Hand niemand mehr daran, daß der Wechsel wirklich noch kommt.

„Wir müssen uns in Zukunft stärker mit der SPD auseinandersetzen“, fordert Renate Künast. Schon jetzt sieht sie in ihrer Partei den „Repräsentanten des politischen Alternativkonzeptes zur CDU“ in der Stadt. Doch welche neuen programmatischen und strategischen Anforderungen, aber auch welche Probleme aus dieser Rolle für die Bündnisgrünen erwachsen, darüber müsse in der Partei nach den Wahlen in aller Ruhe nachgedacht werden. Der Ostberliner Bündnisgrüne Andreas Schulz plädiert dafür, sich nach den Wahlen nicht weiter auf die „Loser-Logik“ der SPD einzulassen, sondern aus der Rolle des Juniorpartners der SPD herauszutreten und offensiv „überall nach Mehrheiten für dringend anstehende Reformprojekte“ zu suchen und davon keine Partei auszuschließen.

Aber weder eine Diskussion über eine PDS-Tolerierung noch irgendwelche schwarz-grünen Phantomdebatten wollen sich die Bündnisgrünen in den letzten Tagen des Wahlkampfes aufdrängen lassen. Den Beschlüssen der Mitgliederversammlung, so betont Wolfgang Wieland, gäbe es nichts hinzuzufügen. Doch auch davon, in den letzten Tagen des Wahlkampfes von dem dahinsiechenden Partner abzurücken, die SPD schärfer für ihre profillose Politik anzugreifen, hält bei den Bündnisgrünen niemand etwas. „Da muß man ja erst seine Beißhemmungen überwinden“, spottet Wolfgang Wieland angesichts der Lage der SPD. Die Bündnisgrünen wollen nun die CDU scharf angreifen und damit das übernehmen, was angesichts des ruppigen CDU-Wahlkampfes eigentlich vor allem die Sozialdemokraten hätten leisten müssen. Christoph Seils