Jazz mal Größe, mal Weite, mal Ferne

■ Das Wochenende beim WestPort-Festival: Eine nostalgische Feier mit Al Jarreau, Eso-Bop mit Mari Boine und eine verkiffte Modeshow mit dem Jungle-Star Goldie

Al Jarreau

Als der Musiker am Freitag die Bühne der Musikhalle betrat, versuchte das euphorisierte Publikum ein fast schon als religiös zu bezeichnendes Phänomen zu provozieren: die Wiederauferstehung eines Sängers am Ort seiner einstigen Entdeckung (vor 20 Jahren im alten Pö). Begleitet von seiner fünfköpfigen Electric-Band zelebrierte er sein Verständnis von Musikalität: Verstiegenes Tonleiterspringen ist einfacher als Atmen. Seine Band geleitete durch eine kleine Musikgeschichte: verjazzte Beatles, verrockter Stevie Wonder und arabisierter Brubeck. Bei „Take Five“ zeigt Al seine offene Hand wie der Messias seine Sandale, freut sich mit Deutschland über den Gewinn der EM und ordert „please, a Bratwurst, and a cold beer“: Gereicht wird Kabarett-Einlage mit pittoresken Sanges-Eskapaden an Soul. Da paßte sogar das projizierte West-Port-Logo in den barocken Wand-Rahmen der Musikhalle. Der heiter-eleganten Ausstrahlung von Mensch, Musik und Tanz war nicht mehr zu entkommen: Nach 2 1/2 Stunden dankte ein durch rote Rose und Standing Ovations zu Freudentränen gerührter „Jarreaumanic“ mit einem Kinder-Requiem „In memoriam Big Ella“. Tosender Beifall. Gunnar F. Gerlach

Mari Boine / Goldie

Am Samstag versenkten sich die Zuhörerinnen und Zuhörer dann in die Stimme von Mari Boine. Einige tanzten, viele andere legten kontemplativ den Kopf schief. Boine sang einlullend, weitschweifig und ausgiebig. Mit Handbewegungen unterstütze sie ihren Gesang. Die Hände zeigten dorthin, wohin es die Noten mindestens tragen sollte, in die Weite. Wer sich mit Boine und ihrer Band noch länger als ein paar Stunden in musikalischen Weiten aufhalten muß, der wird herausbekommen, was die Frau denkt: Lieder werden direkt aus dem Äther sanft heruntergezogen. Sie treffen aber nicht einfach hart auf den Boden, sondern landen inmitten der einladenden Natur. Die Natur, wie sie im Gesang von Mari Boine vorkommt, ist eine Gelegenheit, sich endlich mal „ganz“ zu fühlen und nur noch sentimental der Zeit zu gedenken, wo die Pubertät, geiler Konsum und amerikanische Pop-Kultur sowie ein langer Aufenthalt in den sozialen Systemen von Niklas Luhmann das „Ganz“-Fühlen verhindert haben. Die einladende Haltung von Boine erwies sich im Laufe des Abends als das Gebaren einer Esoterikerin, die an Gott glaubt, weil sie das Göttliche in sich vermutet. Mit Jazz hatte das nur insofern zu tun, als auch Ella Fitzgerald – wie Boine – textlos gesungen hat. Die stilistische Einordnung Boines entgeht nicht der grauenvollen Umschreibung: „nordischer Eso-Bop“.

Danach, zur Late Night, versammelten sich vor der Musikhalle Menschen, denen Musik auch einiges über Mode sagt. Anders als bei einem HipHop-Konzert standen die Fans von Goldie aber nicht ansehnlich da, weil sie für etwas einstehen wollten, sondern weil für sie schicke Klamotten auf die Möglichkeit hinweisen, jeden Abend, an dem ein Goldie auftritt, als ein „Age of chance“ zu feiern. Allerdings setzte sich das im Saal recht ungeordnet fort. Zu den flashenden drum & bass-Breakbeats des Jungle-Stars mochten sich zwar einige Dutzend zum Tanzen hinreißen lassen. Andere legten aber lieber außerhalb des Saals Zigarettenpausen ein, während eine dritte Besuchergruppe in den Sitzreihen verharrte und die Wirkung der vorher genossenen Joints durch die Musik zu steigern hoffte. Eine etwas unentschiedene „Kemistry“ stellte sich ein, zu der Goldie zwar noch wuchtiger als auf Platte die Musik lieferte, die sich aber trotz einer beweglichen Sängerin und deren Spurts über die Bühne nicht bis über die zehnte Reihe hinaus durchsetzte. Kristof Schreuf