Im Dickicht der Großstadt

Elche in der Elbmarsch, Luchse in Lurup, Biber in der Bille – „Ein Besuch in Utopia“: Erster Teil der taz-Serie über die schöne neue Weltstadt Hamburg  ■ Von Vera Stadie

Hamburg im Sommer – eine Duftglocke liegt über der Stadt. In den Wohnvierteln ist kaum noch ein Stein zu sehen, die Dächer und Fassaden sind überwuchert mit Rankpflanzen, die in allen Farben blühen. An den Sonnenseiten der Häuser kann man im Herbst Wein ernten – besonders hoch gehandelt werden die letzten Flaschen „Ottenser Hauptstraße Jahrgang 2005“. Auf den Flächen zwischen den Wohnhäusern flattern Schmetterlinge durch Mohn und Klee. Hier, zwischen Weidengebüsch und kleinen Ahorn-, Kastanien- und Eichenwäldchen, spielen die Kinder. Wandse, Osterbek und Isebek schlängeln sich in weiten Bögen durch die Stadt: Die fischreichen Bäche sind das Revier der Fischotter und Angler.

Um die Bürotürme in der City sausen tagsüber die Falken, in der Dämmerung starten Eulen und Fledermäuse aus den eigens für sie ausgebauten Dachgeschossen ihren Rundflug durchs Dickicht der Innenstadt. Im verwilderten Stadtpark versteckt sich ein Luchs, über den Ohlsdorfer Friedhof schleichen Wildkatzen, im Volkspark brechen Wildschweine durchs Unterholz. Neben den U-Bahndämmen sonnen sich die Füchse vor ihren Höhlen, und auf den Obstwiesen in der City Nord sind gerade die Kirschen reif.

Heiß begehrt bei Eltern, die ihre Kinder gerne in der Natur aufwachsen lassen wollen, sind die Wohnungen in Steilshoop, Kirchdorf und Mümmelmannsberg. Dort ist das sterile, vorschriftsmäßige „Abstandsgrün“ des vergangenen Jahrhunderts längst bunten Blumenwiesen gewichen, in denen die Bienen summen. In den Teichen zwischen den Mietshäusern quaken die Frösche.

Richtig wild ist es im Hafen und in der Marsch. Aus der eingezwängten und ausgebaggerten Elbe ist eine dynamische Flußaue geworden, geprägt von Überschwemmungen, Ebbe und Flut. Man hat sich davon verabschiedet, das Fahrwasser für Containerschiffe auszubaggern. Das Tor zur Welt ist jetzt ein florierender Binnenhafen. Viele ehemalige Hafenbecken sind wahre Naturoasen und besonders bei den Badegästen beliebt. Der Strom kann sich wieder ausbreiten, zum Dank verschont er bei Sturmflut die Stadt. Die Deiche sind soweit zurückverlegt worden, daß im Deichvorland riesige Überschwemmungsflächen entstanden sind. Dort waten Weiß- und Schwarzstorch, Reiher, Kormoran und Uferschnepfe. Im flachen Wasser stehen Weiden und Pappeln, darüber kreist ein Fischadler, und Biber sorgen dafür, daß es nicht zu trocken wird in der Elbaue. Mit ihren Dämmen stauen sie mal hier, mal da Wasser auf.

In diesem Revier fühlt sich auch die kleine Herde von Wisenten wohl, die kürzlich aus Polen eingebürgert wurde. Und weil die Elche sich in der Elbmarsch so stark vermehren, hat gerade der schwedische König beim Bürgermeister angefragt, ob er mal zur Elchjagd nach Hamburg kommen darf.

Zwischen den überschwemmten Wiesen eingestreut sind kleine Wäldchen aus Eichen, Ulmen, Eschen. Hier treffen sich die Vögel zum Konzert. Nicht nur Amsel, Drossel, Fink und Star sind zu hören, sondern die ganze Vogelschar singt vielstimmig – Drums and Percussion: Spechte. Hinterm Deich wird nur noch ökologisch gewirtschaftet. An den Gräben zwischen den Gemüsefeldern in Wilhelmsburg wogt das Schilf, dazwischen blüht gelb die Schwertlilie.

Das war nicht immer so. Beim Stammtisch der Naturschutz-Senioren freut sich Dr. Uwe Westphal, seit nunmehr fünf Jahrzehnten im Naturschutzbund aktiv, noch immer über das „engmaschige grüne Netz“, das inzwischen die Stadt durchzieht. „Von Hauptverkehrsstraßen umschlossen lagen grüne Inseln wie das Eppendorfer Moor im lebensfeindlichen Meer der Großstadt“, erinnert sich der 70jährige Öko-Veteran an die Zeit vor der Jahrtausendwende. Damals hätten nicht nur Tiere, sondern auch Menschen an der Vereinzelung gelitten. „Da rief dann einer dem anderen zu: ,He du, wie bist du über die Straße gekommen?', und der andere hat zurückgebrüllt: ,Ich bin hier geboren!'“

Seine ehemaligen Mitstreiter grinsen. Harald Köpke vom Bund für Umwelt- und Naturschutz (BUND) war einer der ersten, die die Wildnis in der Stadt zu schätzen wußten. Schon in den 90er Jahren kannte er „vergessene Flächen“ im Hafen. Auf der Peute hatte man 1991, nachdem ein Deich gebrochen war, ein kleines Überschwemmungsgebiet sich selbst überlassen. „Dort lebte damals einer der größten Zwergtaucherbestände Hamburgs, und das Froschkonzert übertönte die vorbeidonnernden Lastwagen“, erzählt er. BUND-Kollege Florian Liedl – auch er zeit seines Lebens ein Fan von Brachflächen – nickt zustimmend: „Da siedeln sich Arten an, die es selbst in Naturschutzgebieten nicht mehr gibt. Auf den Trümmergrundstücken versammeln sich Tiere, die woanders ausgerottet sind.“ Und außerdem habe gegen eine echte Wildnis kein Abenteuerspielplatz eine Chance. Westphal kann ihm nur beipflichten. „Das macht ja die Lebensqualität unserer Stadt aus, daß nicht nur steriles gepflanztes Grün da ist, sondern daß man als Kind und auch als Erwachsener mitten in der Stadt Natur erleben kann.“ Da brauche es weder viel Pflege noch Gestaltung, meint der pensionierte Grünplaner Liedl. „Der Zufall ist oft der beste Landschaftsgestalter“.

Mit Schaudern erinnert sich Liedl an die Zeiten, wo „nur aus Angst vor der Wildnis und vor dem Lebendigen die Menschen jeder noch so kleinen Grünfläche mit sogenannter Gartenpflege auf den Leib gerückt sind. „Für die Ordnungsliebe haben sie mit mechanischen Gartengeräten und chemischer Keule aufgerüstet. Sie töteten, was sie eigentlich lieben.“

Die Wilde und Hansestadt Hamburg im Jahr 2016. Vor zwanzig Jahren hat man die Visionen der Natur- und Menschenschützer in die Tat umgesetzt: die Autos aus der Stadt weitgehend verbannt, die wenigen verbliebenen Straßen unter die Erde gelegt, alle freien Flächen von Stein, Beton und Asphalt befreit, alle Gärten, Parks, Hinterhöfe, Dächer, freien Grundstücke – insgesamt 40 Prozent der Fläche Hamburgs – der Natur überlassen. Und siehe da: Unter dem Pflaster lag nicht der Strand. Eine üppige Pflanzenwelt breitete sich aus, und die Tiere nahmen Besitz von ihren neuen Revieren.

Eine Utopie? Genau. Aber nicht unbedingt nur ein Traum. Das von der Stadtentwicklungsbehörde 1996 nach langem Ringen endlich verabschiedete Landschaftsprogramm (Lapro) sieht „eine ausreichende Versorgung der Bevölkerung mit Grün- und Freiflächen für Spiel, Sport und Erholung in angemessener Entfernung zu den Wohngebieten“ vor – „Landschaftsachsen“ und „Grüne Ringe“, die verknüpft sind mit wohnungsnahen Parkanlagen und grünen Wegeverbindungen. Die Landschaftsachsen gehen sternförmig von der Außenalster zu den Stadtgrenzen: Die Volkspark-Achse, die Eimsbütteler Achse durchs Niendorfer Gehege, die Alsterachse, die dem Lauf der Alster folgt, die Osterbek-, Wandse- und Bille-Achse. Der innere Grüne Ring umschließt die City mit Elbpark, Wallanlagen, Planten un Blomen, der äußere verläuft durch Jenisch- und Volkspark, Ohlsdorfer Friedhof und den Harburger Stadtpark.

In den Wohngebieten sieht das Lapro die Nutzung von Baulücken und Stadtbrachen als „Westentaschenparks“ oder Spielplätze, die Umgestaltung von Straßenräumen für Spiel- und Freizeitnutzung vor. Ziele des ebenfalls im Frühjahr 1996 verabschiedeten Artenschutzprogramms (Apro) der Umweltbehörde sind unter anderem: Deichlinien sollen zurückverlegt werden, „um verlorengegangene Tidelebensräume wiederherzustellen“; in Grün-, Park- und Kleingartenanlagen sollen sich wildlebende Tier- und Pflanzenarten ansiedeln , in der Innenstadt versiegelte Flächen geöffnet und heimische Bäume und Sträucher angepflanzt werden. Biotope, die sich auf Freiflächen spontan entwickeln, sollen erhalten werden, an den Verkehrswegen sollen sich auf Dämmen, Böschungen und breiten Randstreifen die „Unkräuter“ frei ausbreiten dürfen. Die natürlichen Lebensräume Hamburgs – die Nebenflüsse, Altarme und Vordeichflächen der Elbe, die Bäche und Gräben in der Marsch, die Moore, das Feuchtgrünland und die Wälder – sollen laut Apro durch naturnahe Gebiete miteinander verbunden werden.

Man braucht also nur nach Programm vorzugehen, und schon ist man auf dem besten Wege in die städtische Wildnis.