In den Fußstapfen Stanislavskis

■ Der russische Regisseur Semen Arkad–evitsch Barkan ist einer der letzten Stanislavski-Schüler / Seit zwei Jahren arbeitet er in Bremen / Bremer Studenten belegten einen Barkan-Vortrag: Heute spielen sie Theater

Im Grunde unterscheiden sich die Menschen in zwei Gruppen. Die einen sind immer genau dort wo das Ereignis ist, stehen daneben, wenn die Berliner Mauer fällt. Die anderen aber, und das sind die meisten, sind immer am falschen Ort, kriegen nie was mit.

Doch es gibt dann noch eine dritte Möglichkeit: Immer ganz in der Nähe der großen Ereignisse, aber nicht im Zentrum des Geschehens. Das ist unter Umständen die allerbeste Position und in bestimmten politischen Krisensituationen die Garantie zum Überleben. Hier hat sich der heute 80-jährige russische Regisseur Semen Arkad–evitsch Barkan ein Leben lang aufgehalten. Und er hat gut daran getan in der Sowjetunion einen Standpunkt zu finden, der ein wenig außerhalb der direkten Schußlinie lag. Zu Beginn allerdings war das noch Zufall.

Man schreibt den 7. August 1938. Durch die Moskauer Innenstadt schlängelt sich ein langer Begräbniszug. Zu Grabe getragen wird mit allen Ehren und dem Pomp der Sowjetmacht, Konstantin S. Stanislavski. Gestorben war der Mann, der in den letzten 40 Jahren seines Lebens das russische Theater revolutioniert hat. In dem nächsten halben Jahrhundert wird sich zeigen, daß Stanislavskis Theater-System auch in Europa und besonders in Amerika einen grundlegenden Einfluß auf das Theater und die Filmschauspieler hat. In Strasbergs „Actor's-Studio“, das sich eng an Stanislavskis Methode orientiert, ist halb Hollywood ausgebildet worden.

Während unten der Trauerzug sich seinen Weg bahnt, sitzt ein paar Häuserecken weiter der 22 jährige Barkan und bereitet sich auf seine Aufnahmeprüfung für Stanislawskis Regiestudium vor. Durch nichts wird er sich davon abbringen lassen.

Denn mittlerweile hat Semen Arkad–evitsch Barkan sein Ziel schon 12 Jahre lang im Visier. Im Theater wurden seine beiden älteren Brüder ausgewählt, zwei Feuerwehrleute zu spielen. Semen und seine Schwester bobachten die Geschwister und beschließen: „Denen werden wir es zeigen.“ Jevgenia Barkan wird in Petersburg zu einer bekannten Schauspielerin und Semen A. Barkan ein Regisseur, den auch jetzt noch ganz Russland kennt.

Damit liegen die beiden nicht nur persönlich auf Erfolgskurs, auch ihre Zeitgenossen haben das Theater entdeckt. „Das ist typisch für Russland, in diesen Jahren und auch heute“, sagt Barkan „Gerade wenn Krisen das Land erschüttern, sind die Theater voll.“ Trotz ärgster Hungersnot oder Revolution, in Russland geht man ins Theater.

Stanislavski ist nicht ganz unschuldig daran. Ihm ist es gelungen, gemeinsam mit seinem Mitstreiter Nemerovitsch-Dantschenko das russisch-zaristische Theater aus seiner vermufften Erstarrung zu befreien, in der es sich noch vor der Jahrhundertwende befand. Durch ein völlig neues System der Schauspielausbildung findet auf der Bühne plötzlich wirkliches Leben statt. Wo früher nur an der Rampe deklamiert wurde, da können sich die Zuschauer plötzlich identifizieren, mehr noch: sie sind im Innersten bewegt. Bei seiner legendären Inszenierung von Tchechows Stück „Die Möwe“ ist das Publikum so überrascht von dem, was da auf der Bühne geschieht, daß es vergißt zu applaudieren. Minuten lang herrscht Schweigen im Saal, dann fallen sich wildfremde Menschen gegenseitig um den Hals. Ein neues Theater ist entstanden, dessen Ästhetik mit dem Stilempfinden der Modernen Schritt hält. Stanislavski bezog das extra für ihn gebaute Jugendstilgebäude des „Moskauer Künstlertheater“. Noch heute, fast hundert Jahre später, ist es das Theater, in das man geht.

Auch in den Dreißigern, als nach Lenins Tod Stalin an die Macht kommt und mit seinem Personenkult und Schreckensregime die Sowjetmacht zusammenschweißt, gelingt es ihm, die Galionsfiguren unter den Künstlern Russlands zu vereinnahmen. Neben Gorki ist es auch Stanislavskis Theaterkunst, die zur Staatsmaxime erhoben wird. Und damit geschwächt. Denn natürlich bezog Stanislavskis System einer Hauptteil seiner Kraft gerade auch aus der ständigen Erneuerung der Erkenntnisse.

„Das Künstlertheater war Stalins Lieblingstheater geworden“, erinnert Barkan sich an die dreißiger Jahre. „Aber es war gleichzeitig auch das beste der Welt“, lautet die nicht ganz unbescheidene Einschätzung der russischen Schauspielkunst. Also war klar, daß der ehrgeizige junge Barkan nur hier lernen konnte, was die Bühnenwelt im Innersten zusammen hält.

Ja, das stimme schon, räumt Barkan heute ein, er habe sein Regiehandwerk nicht mehr direkt von Stanislavski gelernt. Als er 1946 eineinhalb Jahre lang im Arbeitszimmer seiner Lehrers gelebt hat, um nun endlich die erste eigene Inszenierung auf die Bühne bringen zu können, wird diese am Premierenabend von der Zensur verboten.

Da tut sich 1951 eine Chance auf. In Moskau wird im Zuge der Beruhigungspolitik mit künstlerischen Mitteln, das Zigeuner-Theater „Romen“ gegründet. Semen A. Barkan übernimmt. 25 Jahre lang kann er hier gänzlich unbehelligt als Regisseur arbeiten. Natürlich wußten wir, daß das Theater ein Teil des Versuches ist, die nomadisierenden Zigeuner seßhaft zu machen“, sagt er heute. Aber die Kreativität der Schauspieler und Musiker sei wirklich unglaublich gewesen. So habe man wenigstens arbeiten können. Viele sind ja damals bei Nacht und Nebel aus den Kolchosen wieder abgehauen. Bei seinen freien Arbeiten die er als Regisseur für andere Theater gemacht hat, lernte Barkan das System der Zensoren kennen Und auch die Reaktion der Zuschauer. Je heikler das Stück war, desto größer das Interesse an den Stücken.

Die Begeisterung seiner Landsleute für das Theater, das ist etwas, was ihm jetzt in Deutschland durchaus fehlt. „In Russland sind die Theater auch jetzt immer voll!“, anders als in der DDR etwa, wo man über Zuschauerschwund bei gestiegenen Preisen klagt, bleibt das Interesse an dem Theatergeschehen wach.“Als er vor zwei Jahren nach Deutschland kam, hatte das zwar neben politischen auch durchaus private Gründe. Man wollte hier die Tochter unterstützen, die von einem Tag auf den anderen Witwe geworden war. Möglich wurde die Ausreise für den Regisseur durch seine Zugehörigkeit zum jüdischen Glauben. Einer Zugehörigkeit, die er als verpflichtend empfindet. In der Bremer jüdischen Gemeinde, die seit Jahren von russischen Aussiedlern dominiert ist, hält er Vorträge und engagiert sich zur Zeit mit einen Film über – wie könnte es ander sein – Stanislawski. Doch wie könnte der Regisseur es mit einem Filmvortrag genug sein lassen. Theater, das ist immer Praxis und live. Mit Staunen erfuhren das die bremer Studenten, die einen Vortrag zum Theatersystem Stanislavskis belegt hatten. Ein halbes Jahr später fanden sie sich auf der Bühne wieder. Selbstverständlich ist das System Stanislavskis keine Trockenübung.

Und dabei, das ist jetzt schon klar wird es für einige nicht bleiben. Bald werden in Bremen Kollegen erwartet. Die ehemaligen Studenten der Technischen Hochschule Moskau. Die zukünftigen Ingenieure hatten vor Jahren nur so zum Spaß einen Theaterkurs bei S.A. Barkan belegt. Bald gab es kein Zurück mehr. DEi Droge Theater begann zu wirken. Der ganze Kurs meldete sich zum Studium der Schauspielkunst an. Barkan probte kollektiv, und heute sind einige von ihnen äußerst erfolgreiche Schauspieler in Moskau.

Susanne Raubold