Magie & Aberglaube

Teil 6: Der „zweite Speer“ und andere übernatürliche Fügungen im Leben der Hanse-Politiker  ■ Von Silke Mertins taz-Serie: Die Stammesriten der Bürgerschaft

Kein Wort übt bei der Ethnie der Hanse-Politiker eine größere magische Macht aus als dieses: der Wähler. Jahrelang beschäftigte die ethnologische Forschung die Frage, wer oder was der Wähler sein könnte. Eine Gruppe von Ahnen? Eine Art magisches Auge? Die Forschungsobjekte selbst halten den Wähler (auch im Plural und gelegentlich gar in der weiblichen Form gebräuchlich) für ein beseeltes Wesen, dem sie eine von hysterischer Angst begleitete Ehrfurcht entgegenbringen. Sie sehen den Wähler als eine allmächtige und übernatürliche Kraft, die nicht bildlich dargestellt werden soll und die sie unablässig zu verstehen versuchen.

Die Bürgerschaftler (Eigenbezeichnung) glauben ungeachtet ihrer Clan-Zugehörigkeit (SPD, CDU usw.), daß sie aus dem Wähler irgendwie hervorgegangen sind. Dieser Schöpfungsmythos ruft das omnipräsente Bedürfnis hervor, den Wähler stets günstig zu stimmen. So werden Opfer dargebracht, die kulturimmanent Wahlgeschenke genannt werden. Bei den Stammesvollversammlungen in der Palaverhütte (Eigenbezeichnung: Rathaus) bemüht der Bürgerschaftler sich deshalb, das magische Wort möglichst oft in seine Rede einzubauen und anderen Clans sogar mit einem Fluch durch den Wähler zu drohen.

Alle vier Jahre findet ein Verehrungsritual statt (Eigenbezeichnung: Wahlen). Ablauf und Ergebnis des Rituals stehen weitestgehend vorher fest. Trotzdem sind die Bürgerschaftler überzeugt, mit Glücksbringern ausgerüstet (Eigenbezeichnung: Wahlplakate) den Wähler für sich gewinnen zu können. Jeder Clan denkt sich eigene Zauberformeln aus, etwa „Rot steht dir gut“ (SPD) oder „Querdenker statt Musterknaben“ (Statt Partei). Der Grund für diesen eigentümlichen Aberglauben ist einfach: Die Hanse-Politiker glauben nicht an Zufall.

Dieses Konzept ist in der Ethnologie als der Glaube an den zweiten Speer bekannt. Zum Beispiel weiß auch der ostafrikanische Zande, daß der Getreidespeicher zusammengebrochen ist, weil das Holz von Termiten zerfressen war, fragt sich aber dennoch, warum gerade in dem Moment, wo die Menschen darunter saßen? Die Termiten waren der erste Speer. Und wer hat den zweiten abgeschossen? War es das Nachbardorf? Oder der Fluch eines eifersüchtigen Ehemanns?

Ähnlich ist es auch bei den Hanse-Politikern bestellt. Der Ausgang des Rituals „Wahlen“ ist erklärlich; der erste Speer war Tradition und Gewohnheit. Doch woher kam der zweite Speer? Zufall? Niemals! Der verehrte Wähler selbst kann es nicht gewesen sein. Folglich werden von den Clans, die nicht von Jägern (Opposition) zu Sammlern (Regierungsparteien) aufsteigen durften, postrituell alternative „Schuldige“ gesucht: Die anderen Clans hätten das Ritual nicht ordnungsgemäß durchgeführt (Eigenbezeichnung: unfairer Wahlkampf), andere Stämme hätten den Wähler unvorteilhaft beeinflußt (Eigenbezeichnung: das Ausländerproblem) oder das Clanoberhaupt sei kein Günstling der höheren Mächte und müsse verbannt werden (Eigenbezeichnung: personelle Konsequenzen).

Trotz der zuweilen aufwendigen und stressigen Begleiterscheinungen sorgen die Magie und der Glaube an übernatürliche Fügungen für das seelische Gleichgewicht des Hanse-Politikers, denn mit ihrer Hilfe kann er sich die Welt erklären. Uns WissenschaftlerInnen erklärt es wiederum, warum der Bürgerschaftler so häufig mit einem selbstzufriedenen Lächeln anzutreffen ist.

Am nächsten Sonnabend in Folge 7: Der Ahnenkult