Minimal mit großem Aufwand

■ Steve Reich spazierte in der Fabrik durch sein Werk

Einem gesetzten Publikum trommeln vier bebrillte Herren in weißen Oberhemden am Sonntag abend gründlich die Ohren frei: Steve Reich, einer der berühmtesten amerikanischen Minimal-Musiker, beehrte Hamburg mit einem Auftritt seines 1966 gegründeten Esembles. Zwischen Konzerten in Kopenhagen und London führte er in der Fabrik ein sechsteiliges Programm aus einem Vierteljahrhundert Minimalmusik auf, jener strengen, rhythmusbetonten und kleinste Tonschritte berechnenden Musik, die als abseitiges Getön einst Fluxusperformances begleitete und heute anerkannte Opern- und Filmmusik ist.

Das mag mit daran liegen, daß diese Musik ihre Kraft aus den unterschiedlichsten Traditionen zieht: Steve Reich studierte klassische Komposition an der Juilliard School of Musik, lernte in Ghana afrikanische Trommeln zu spielen, ließ sich in Kalifornien ins balinesische Gamelan-Spiel einweihen und erarbeitete sich den traditionellen Gesang der jüdischen Liturgie in Jerusalem. Auch kennt Minimalmusik keine Spartengrenzen. Reich ist Mitglied der American Academy of Arts and Letters und schreibt Musik für Pat Metheny. Er hat ebenso David Bowie beeinflußt wie 1993 bei den Wiener Festwochen die mehrstündige Video-Oper The Cave aufgeführt – ein Häppchen davon, „Genesis XXI“, gab es zu hören.

Nur in dem 1970 geschriebenen „Drumming Part One“ trommelte Steve Reich mit, den Rest der Aufführung bestimmte er vom Mischpult aus und beobachtete den Einsatz seiner Erfindungen, wie dem beidhändigen Streichen des Xylophons mit dem Violinbogen.

Auch wenn das längste aufgeführte Stück „Sextett“ über dreissig Minuten dauert, Puristen ganz minimaler Musik, wie sie Asien bietet, sind Steve Reichs Stücke noch zu melodiös: Sie tadeln den gefälligen Variationsreichtum, der den Sog in die Trance verhindert.

Wer noch Zweifel über den durchkomponierten Charakter der Musik hatte, dem wurden sie spätestens beim neuen, letzten Stück „Proverb“ genommen: Paul Hillier zückt seinen Taktstock und dirigiert die choralartige Musik für fünf Stimmen und Orchester.

Die Begeisterung des Publikums blieb trotz störend umfallender Gläser und sehr langer Umbaupausen ungebrochen. Auf den Applaus nach dem zweistündigen Durchgang durch die eigene Musikgeschichte antwortet Steve Reich mit „Clapping Music“, einem Stück von 1972 für vierhändiges Händeklatschen – auch das strikt nach Noten und trotzdem eine ziemlich lebendige Klassik.

Hajo Schiff