„Begleitung für die Seele ist nicht vorgesehen“

■ Individuelle Bedürfnisse werden durch die Pflegeversicherungs-Gutachter verkannt

Anni Hoffmann ist so mager, daß ein Windstoß sie umwerfen kann. Die 79jährige aus dem Hamburger Arbeiterviertel Veddel leidet an Osteoporose (altersbedingte Knochenbrüchigkeit) und wiegt nur noch 36 Kilo. Sie kann weder lange stehen, noch lange laufen, noch lange sitzen. Dennoch sollte sie nach dem Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenkasse (MDK) keine Leistungen aus der Pflegekasse bekommen.

45 Jahre lang hat Anni Hoffmann gearbeitet und einen Sohn alleine großgezogen. Sie lebt von 840 Mark Rente. Erst nachdem sie Widerspruch gegen das MDK-Gutachten einlegte und ihren Behindertenausweis vorlegte, wurde sie als „erheblich pflegebedürftig“ eingestuft. Von den 800 Mark aus der Pflegekasse kann sie sich nun Leistungen von der Sozialstation kaufen: Als Sachleistung bis zu 750 Mark und für eine häusliche Pflegekraft bis zu 200 Mark für höchstens 14 Stunden im Monat.

Vor der Einführung der Pflegeversicherung fühlte sich Anni Hoffmann von der Sozialstation besser betreut. „Da ist es nicht auf eine Stunde angekommen. Heute geht alles nur in Hetze, das finde ich furchtbar“, klagt sie. 45 Minuten hat heute eine Pflegerin, auf den Tag gerechnet, für sie Zeit. Sie würde gerne öfter mal 'rausgehen, „aber es ist ja niemand da, der mit mir die vier Stockwerke 'rauf- und –runtergeht“.

Für Pflegerin Renate Wiese ist der Fall von Anni Hoffmann ein „krasses Beispiel dafür“, daß die Pflegeversicherung individuelle Bedürfnisse nicht berücksichtigt. Schlimmer noch ist die Situation für psychisch verwirrte Leute, berichtet Wiese. „Begleitung für die Seele sieht die Versicherung nicht vor.“

Ob die Pflege zuhause besser ist als in einem Heim – darüber streiten selbst die Betroffenen. Christine Paulmann ist kürzlich mit 89 Jahren in das Pflegeheim der Arbeiter-Wohlfahrt (AWO) in Wedel bei Hamburg gekommen. Einerseits sieht sie die Notwendigkeit der Heimunterbringung ein. „Aber es ist so schwierig, in unserem Alter neue Freundschaften zu knüpfen“, erzählt sie. Im Gegensatz zu anderen Bewohnern hat sie ein kleines Stück ihres Zuhauses mitgebracht, so ihren Sekretär voller Fotos, ihren gemütlichen Stuhl und einen Teppich. Besonders schwer fällt ihr, das Badezimmer mit drei weiteren Bewohnerinnen zu teilen. „Die legen die Sachen immer woanders hin.“

In diesem Heim leben viele Altersdemente und Alzheimer Patienten. Die Räume sind freundlich gestaltet, das Personal engagiert, und dennoch: Mit der Pflegeversicherung ist der Leistungsdruck ebenso wie der Sparzwang gestiegen. Pflegedienstleiterin Elke Pehl ist deprimiert: „Wir sind in einer Zwickmühle. Die Leistungen müssen reduziert werden.“ Herdis Lüke