Keine lichten Momente vorm Gutachter

Allenfalls Teilkasko: Eine Hamburger Tagung kritisiert die Folgen der Pflegeversicherung  ■ Von Herdis Lüke

„Eine gigantische Mogelpackung“ sei die Pflegeversicherung, verurteilen sowohl Wohlfahrtsverbände als auch Betroffene des Arbeits- und Sozialminister Norbert Blüms liebstes Kind. Viele Pflegebedürftige stünden weitaus schlechter da als vorher.

So jedenfalls lautet das Fazit einer Hamburger Tagung über Erfahrungen mit der Pflegeversicherung der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege mit VertreterInnen aus Verbänden, Trägern, Pflegeeinrichtungen, Politik und Medien am vergangenen Mittwoch.

„Den alten und behinderten Menschen wurde vorgegaukelt, mit der Pflegeversicherung sei ihre Versorgung hundertprozentig abgedeckt. In Wirklichkeit aber ist nur eine Grundpflege abgesichert. Allenfalls handelt es sich um eine Teilkaskoversicherung“, sagt Cornelia Weber vom Diakonischen Werk.

Daß es sich nicht um eine nach „Kundenbedürfnissen“ orientierte Versorgung handelt, zeigen zahlreiche Beispiele sowohl aus der ambulanten als auch aus der stationären Praxis. „Hier sparen Krankenkassen und Sozialhilfeträger auf Kosten der Betroffenen und der Einrichtungen“, meint Michael Grand vom Landesverband Schleswig-Holstein der Arbeiterwohlfahrt (AWO). Möglichst viel solle von der Pflegeversicherung bezahlt werden, ohne daß aber dafür mehr Geld zur Verfügung stünde.

Eines der Hauptziele der Pflegeversicherung war die Entlastung der Sozialhilfeträger. Was vorher das Sozialamt zahlte, kommt nun aus der Pflegekasse – je nach Pflegestufe, die der Medizinische Dienst der Krankenkassen durch ärztliche GutachterInnen ermittelt. Zwar gibt es bundeseinheitliche Kriterien für die Einstufung, aber die Statistiken zeigen erhebliche regionale Unterschiede.

So wurden beispielsweise in Westfalen-Lippe 15,7 Prozent der Heimbewohner in die höchste Pflegestufe eingestuft, während es im rheinischen Landesteil von Nordrhein-Westfalen doppelt soviele sind. Auch wurden in Westfalen-Lippe wesentlich mehr HeimbewohnerInnen als nicht pflegebedürftig eingestuft. In Hamburg, berichtet Petra Bäurle von der Gesundheits- und Sozialbehörde, wurden 15,4 Prozent der Heimbewohner in die höchste Pflegestufe eingeordnet; bundesweit seien es 24,2 Prozent. „Diese Entwicklung können wir uns selbst nicht erklären“, räumt Reinhard Hauschild vom Bundesarbeitsministerium ein. Um die Einstufung einheitlicher und damit gerechter zu gestalten, soll nun eine Qualitätssicherung für GutachterInnen eingeführt werden.

Wer in Pflegestufe Null eingeordnet wird, gilt zwar als hilfsbedürftig, bekommt aber nichts aus der Pflegekasse. Nur wenn er ambulant, das heißt zu Hause betreut wird, bezahlt die Krankenkasse die Behandlungspflege. Ist er aber stationär, also in einem Alten- oder Pflegeheim untergebracht, muß der Betroffene die Behandlungspflege aus eigener Tasche bezahlen – „ein unhaltbarer Zustand“, kritisieren die Verbände.

Die Krankenkassen stehen auf dem Standpunkt, daß die Behandlungspflege im stationären Bereich mit der Grundpflege nach dem Pflegesetz von der Pflegekasse zu bezahlen ist. Viele können das nicht und müssen genau das tun, was vermieden werden sollte: Sozialhilfe beantragen. Zwar ist vom Gesetzgeber gewollt, daß die ambulante Pflege Vorrang vor der stationären bekommt. „Aber damit verkommen die Alten- und Pflegeheime zu Siechenanstalten“, warnt Wolfgang Muschter, Direktor des traditionsreichen Hamburger Altenstifts „Hospital zum Heiligen Geist“.

„Dem Bedürftigen ist es nicht verständlich zu machen, weshalb er heute nicht mehr eine Gesamtbetreuung bekommt, daß heute alles nach Zahlen und Minuten geht, über die peinlich genau abgerechnet werden muß“, sagt Edith Pehl, Pflegedienstleiterin eines AWO-Pflegeheimes in Wedel (Kreis Pinneberg). Es sei für die Betroffenen auch nicht nachvollziehbar, wenn sie vor der Pflegeversicherung noch als schwer pflegebedürftig eingeschätzt worden seien, nun aber plötzlich heruntergestuft würden.

Vor allem Altersdemente und psychisch gestörte Patienten seien mit ihren Hochs und Tiefs die Leidtragenden. „Wenn der Gutachter kommt, haben viele einen lichten Moment, andere reißen sich zusammen, weil es ihnen peinlich ist, als hilflos dazustehen“, berichtet Pehl.

Keine Einigkeit gibt es beim Begriff Bedarfsgerechtigkeit im Sinne des Pflegegesetzes: „Wer bestimmt denn, welche Leistungen als bedarfsgerecht anzusehen sind?“, fragt der Hamburger Caritas-Geschäftsführer Lorenz Savelsberg. Das zeige sich besonders bei den ambulanten Diensten. „Hier werden Menschen nach Schema F eingestuft und auf Zahlen reduziert.“ Aus einem Leistungskatalog können sie sich je nach Einstufung bestimmte Verrichtungshilfen auswählen, für die ein gewisser Punktwert gilt, den die Pflegekasse der Pflegeeinrichtung bezahlt.

Dieses System sei jedoch nicht mehr bezahlbar, meint Savelsberg, „wenn der Hilfsbedürftige alle Leistungen seinem Bedarf entsprechend haben will.“