Ein ungehobener Literaturschatz

■ Die Stabi erinnert an den vergessenen Schriftsteller Fritz Gross

Das Grausen hätte die Hamburg-Werbung gepackt. Touristenfeindlicher als Hamburg – ein Städtebild könnte ein Reiseführer kaum sein. Dabei wäre das Buch eigentlich fremdengeeignet in seiner alphabetischen Ordnung. Aber allein unter „R“: nur Hohn. „Ein einziger Fleischmarkt“ sei die Reeperbahn, schimpft Autor Fritz Gross, das Frischfleisch darin in „nicht hygienischem Zustand“. Tschüs, bordellinteressierter Stadtbesucher.

In den Ratskeller gehen Sie bitte auch nicht. Der ist voll, da sitzen schon die Senatoren. Schließlich läßt es sich „bei einer Flasche Rüdesheimer über Regierungsgeschäfte besser reden als im Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit“. Glück für die Hamburger Reiseindustrie, daß der Sozialist Gross 1930 keinen Verleger für Hamburg – ein Städtebild fand. Das Buch blieb unveröffentlicht, wie die meisten von Gross Werken.

Die Staats- und Unibibliothek zeigt ein Typoskript jetzt in einer Ausstellung zu seinem 100. Geburtstag. Der wäre am 20. März gewesen. 69 Jahre vorher, 1928, kam der geborene Wiener nach Hamburg, um bei einer Kulturzeitschrift zu arbeiten – und blieb, obwohl die bald pleite ging. In Hamburg schrieb Gross sein dickstes Buch, Legenden vom Tode, die Beschreibung der Sterbestunden von Hannibal, Marx, Lenin und 157 anderen Persönlichkeiten. Für die letzten Gedanken und Worte Prominenter fiel es offenbar leichter, einen Verleger zu finden.

Gross war Sozialist und, nach ein paar Jahren bei der Armee, auch Pazifist. Nur deshalb war er 1919 nach Deutschland gekommen: Die Revolution in Berlin schien ihm aufregender als die in Wien. Also auf in die Hauptstadt und ab in die KPD. Aber selbst Gedicht gewordene Bekenntnisse wie „Von den Funktürmen der Sowjetunion/riefen die Sender zur Revolution“ und „Einst kommt der Tag,/einst endet die Schmach“ bewahrten ihn 1930 nicht vor dem Ausschluß aus der Kommunistischen Partei. Sein Weltbild war am Individuum ausgerichtet, und das vertrug sich nicht mit der klassen-orientierten Parteilinie.

Weil es sich noch weniger mit den Ansichten der Nazis vertrug, emigrierte Gross 1933 nach England, wo er 23 Jahre später starb – in einem Haus voller unveröffentlichter Gedichte, Romane und 900 weiterer Sterbeskizzen berühmter Persönlichkeiten. Er lebte gerade lange genug, um sich in dem Gedichtband Der Regenbogen versweise über die Kriegsniederlage der Nazis zu freuen. Die Seelentrümmer der Deutschen zu kitten, dafür wollte er die Exilschriftsteller einspannen.

Wenn Gross poetisch wurde, dann kräftig: „Die Nordsee rauscht irgendwo, aber er wird sie nicht mehr hören“, leitet er die Sterbeszene Heines ein und geht nahtlos zu den Bergen über, die der Dichter nun nie mehr sehen wird. Und Düsseldorf auch nicht, die lachende Stadt!

Andere Gross-Schriften sind von Poesie weit entfernt. Gedichte strotzen vor Idealismus, posaunen kapitalistische Mißstände heraus. Oder klingen wie Geschenke verliebter Teenager – wenn auch die schreibbegabter Teenager. In Die zwölf Zyklen der Liebe hat Gross für seine Hamburger Lebensgefährtin gedichtet. Schreibmaschinenschrift für die Verse, Bleistift für Randnotizen.

Ob man 900 Sterbende porträtieren muß, sei dahingestellt. Trotzdem ist es schade, daß Gross' Schriften nach seinem Tod so wenig beachtet wurden. Judith Weber

Staatsbibliothek, Katalogsaal, noch bis zum 29. März