Nicht Herren der eigenen Geschicke

Industriearbeiter sind die größten Verlierer in Chinas hektischen Bemühungen um Modernisierung. Dennoch werden unabhängige Gewerkschaftsbewegungen unbarmherzig verfolgt, ihre Protagonisten ins Exil getrieben  ■ Von Han Dongfang

Den 14. August 1993 werde ich nie vergessen. An diesem Tag, fünf Tage vor meinem dreißigsten Geburtstag, warf mich die chinesische Regierung gewaltsam aus meinem eigenen Land. Auch die Worte des Polizisten, der mich über die Luo- Wu-Brücke auf die Hongkonger Seite begleitete, werde ich nie vergessen. „Leute wie du“, sagte er, haben kein Recht, sich Chinesen zu nennen.“

In China sagt man, das Leben fängt mit Dreißig an. Als man mir fünf Tage vor meinem dreißigsten Geburtstag die chinesische Staatsbürgerschaft entzog, hatte ich allerdings das Gefühl, mein Leben sei zu Ende.

1989 arbeitete ich als Elektroingenieur bei der Eisenbahn. Im Mai und Juni desselben Jahres gründete ich zusammen mit anderen Arbeitern die Autonome Vereinigung der Arbeiter Pekings, die erste unabhängige Gewerkschaft in China seit 1949. Keiner von uns wußte so genau, was eine unabhängige Gewerkschaft eigentlich macht. Wir wußten nur, daß wir eine brauchten. Die offizielle Gewerkschaft, die Vereinigung der Gewerkschaften Gesamtchinas, steht voll unter Kontrolle durch Regierung und Partei und ist eher ein Ministerium als eine Gewerkschaft. Sie hat nie auch nur das geringste für die chinesischen Arbeiter erreicht. Doch wenn wir unsere Lage als Arbeiter verbessern wollen, müssen wir unsere eigene Organisation haben. Als sich die Nachricht über unsere Gründung verbreitete, schlossen sich auch in anderen Städten Arbeiter zu unabhängigen Organisationen zusammen.

Die Regierung reagierte innerhalb von zwei Wochen mit der Zerschlagung unserer Vereinigungen. Doch selbst in dieser kurzen Zeit war es uns gelungen, der Stimmung von Millionen chinesischer Arbeitern Ausdruck zu verleihen, die allzu lange von Chinas sogenannten Politikern an der Nase herumgeführt worden waren. Zwei Wochen lang waren wir selbst die Herren unserer Geschicke.

Nach dem Massaker am 4. Juni 1989 hat die Regierung alle gnadenlos verfolgt und verhaftet, die mit den unabhängigen Gewerkschaften zu tun hatten. Über das Fernsehen wurden Fotos von mir und zwei Kollegen verbreitet, und im ganzen Land führten uns die Zeitungen in der Liste der gesuchten Personen. In fast jeder Straße in China klebte irgendwo ein Poster, auf dem neben unseren Fotos stand, daß wir dringend gefaßt werden müßten. In kurzer Zeit waren die meisten von uns verhaftet und im Gefängnis. Man machte mir den Prozeß und verurteilte mich zu 22 Monaten Gefängnis.

Die Haft war die schlimmste Erfahrung meines Lebens. Es gehört zum Alltag, daß normale Gefangene ständig geschlagen werden. Verstößt ein Gefangener gegen irgendwelche Vorschriften, darf er nicht mehr mit anderen sprechen, wird 24 Stunden lang in eine Stehzelle gesteckt und vom Schlafen abgehalten. Selbst für so triviale Vergehen wie Rauchen werden Gefangene damit bestraft, daß man ihnen für mindestens eine Woche, manchmal zwei Monate, die Hände auf dem Rücken zusammenbindet. In dieser Zeit darf der Bestrafte nicht mit den anderen zusammen essen, und er muß seine Nahrung wie die Schweine vom Boden lecken. Sollte ihm jemand helfen, wird die Strafzeit sofort verdoppelt, und dem Helfer wird die gleiche Behandlung zuteil.

Selbst nach der kürzestmöglichen Strafzeit – also nach einer Woche – können viele ihre Hände nicht mehr ohne Hilfe aus der Stellung hinter dem Rücken befreien. Die Schmerzen sind schrecklich, und man ist vollkommen abhängig von den Kameraden, die einem Dinge aufheben, halten und immer wieder die Arme nach vorn drehen müssen. Das Ziel derartiger Strafen ist natürlich, den Gefangenen zu brechen. Wer überleben will, muß die simple Tatsache anerkennen, daß die Menschenwürde willkürlich verletzt werden kann.

Politische Gefangene, besonders international bekannte, werden seltener geschlagen. Mich hat man weder geschlagen noch der üblichen Folter ausgesetzt. Aber natürlich haben sie auch andere Mittel, den Widerstand derer zu brechen, die sich weigern, „zu kooperieren“ und ihre Schuld zu gestehen.

Beispielsweise wurde ich im Gefängnis krank. Die Verwaltung interpretierte meinen Zustand als Teil meines Widerstands und ließ einen Arzt kommen, der mir eine 15 Zentimeter lange Akupunkturnadel in die Handfläche stieß. Während er die Nadel darin herumbewegte, erklärte er mir, er habe „hier schon viele Leute geheilt. Ein Besuch reicht, und schon sind sie geheilt. Ich garantiere dir, daß du nie wieder nach einem Arzt rufen wirst.“ Ich bestand jedoch weiter auf meinem gesetzlichen Recht auf angemessene medizinische Versorgung. Daraufhin wurde ich in eine Zelle von weniger als 14 Quadratmetern verlegt – in der weitere zwanzig Häftlinge zusammengepfercht waren. Alle litten an infektiösen Krankheiten: Tuberkulose, Hepatitis, Haut- und Geschlechtskrankheiten. Der Gefängnisdirektor klärte mich auf: „Bisher sind wir gut zu dir gewesen. Aber offensichtlich ist dir das überhaupt nicht klar. Du wirst schon bald sehen, wie gut wir zu dir waren.“ Glücklicherweise bekam ich nur Hepatitis. Später wurde mir in den USA der rechte Lungenflügel entfernt – aber wenigstens lebte ich noch.

Anfang 1992 erhielt ich eine Einladung der amerikanischen Gewerkschaft AFL-CIO und von Human Rights Watch, zur medizinischen Behandlung in die USA zu kommen. Während meines Aufenthalts sprach ich auch über die unabhängige Gewerkschaftsbewegung in China und die Situation der chinesischen Arbeiterschaft.

Am 13. August 1993 kam ich nach Guangzhou in Südchina zurück und nahm ein Hotelzimmer. Am nächsten Morgen um sechs Uhr in der Frühe stürmten Polizisten in mein Zimmer und schleppten mich zur Polizeistation. Am Nachmittag bekam ich die offizielle Erklärung: „Während Sie sich im Ausland in medizinischer Behandlung befanden, haben Sie auf internationalen Zusammenkünften Reden gehalten, in denen Sie die chinesische Regierung angriffen. Sie haben daher die chinesische Verfassung verletzt und werden deshalb des Landes verwiesen.“ Ich fragte den Polizeibeamten: „Welches Gesetz gibt Ihnen das Recht, einen chinesischen Bürger ins Ausland zu deportieren?“ Er sagte: „Wir brauchen keine Gesetze. Wir führen nur Befehle aus.“

Seit der Niederschlagung der unabhängigen Gewerkschaftsbewegung 1989 hat sich die Situation der chinesischen Arbeiter nahezu täglich verschlechtert. Arbeiter, die in den Strudel der industriellen Reform gerieten, sind allen Maßnahmen vollkommen schutzlos ausgeliefert. Gleichzeitig genießen die, die für die großen Verluste der chinesischen Industrie verantwortlich sind, Privilegien und Sonderrechte. Arbeiter, die in Joint-venture-Unternehmen beschäftigt sind, müssen unter grauenhaften Arbeitsbedingungen massenhaft Überstunden machen, ohne garantierte Löhne oder Gesundheitsvorsorge. In Reaktion auf die sich stetig verschlechternde Situation haben Arbeiter zu verschiedenen Mitteln gegriffen, um ihre Interessen zu schützen, darunter Streiks und Demonstrationen. Solche Aktionen gingen immer von den Arbeitern selber aus.

Immer wieder gab es auch Versuche, unabhängige Gewerkschaften zu gründen, darunter 1992 die Freie Arbeitergewerkschaft Chinas sowie 1994 die Initiative des Rechtsanwalts Zhou Guaqiang, T-Shirts mit der Forderung „Kollektive Verhandlungsführung für Arbeiter“ drucken zu lassen. Zhou hat zusammen mit anderen auch versucht, eine Liga zum Schutz der arbeitenden Bevölkerung zu gründen, und ebenfalls 1994 machten Li Wenming und andere den Versuch, „Arbeitervereinigungen“ für die Wanderarbeiter in der Industriezone von Shenzhen zu etablieren. Li steht derzeit wegen „Subversion“ vor Gericht, eine Anklage, die ihm mindestens zehn Jahre, wenn nicht lebenslänglich Gefängnis einbringen kann. Bereits seit dreißig Monaten ist er illegal in Haft.

Die Reaktion der Regierung war jedesmal brutale Repression. Fast alle, die jemals den Versuch gemacht hatten, unabhängige Gewerkschaften zu gründen, wurden verhaftet und befinden sich jetzt in Lagern für „Besserung oder Umerziehung durch Arbeit“. Zhou Guaqiang und Liu Nianchun wurden für ihre Gründungsversuche der „Liga zum Schutz der Rechte der arbeitenden Bevölkerung“ prompt zu drei Jahren „Besserung durch Erziehung“ verurteilt, 16 Aktivisten der „Freien Arbeitergewerkschaft Chinas“ zu Haftstrafen bis zu zwanzig Jahren und weitere Beteiligte zu drei Jahren „Umerziehung durch Arbeit“.

Historisch gesehen waren Chinas Gewerkschaftsbewegungen immer ein Pfand im Machtkampf konkurrierender Fraktionen. Sie wurden auch von Triaden oder mafiaähnliche Organisationen mißbraucht. Da wir uns dieser Geschichte bewußt waren, war die unabhängige Gewerkschaftbewegung peinlichst bemüht, sich nicht in den politischen Machtkampf hineinziehen zu lassen. Wir wollen nicht Werkzeug für irgendeine Opposition und ganz gewiß nicht Steigbügelhalter für die derzeit regierende Partei sein. Unser Ziel ist es, Arbeiterrechte am Verhandlungstisch durchzusetzen, wobei wir mit allen Beteiligten, einschließlich Regierungs- und Industrievertretern, reden wollen.

Durch diesen Prozeß kann eine politisch unabhängige Gewerkschaftsbewegung einen wichtigen Beitrag zur Demokratisierung der chinesischen Gesellschaft leisten. Nur wenn chinesische Arbeiter an Entscheidungen beteiligt sind und auf Maßnahmen, die ihr Leben betreffen, Einfluß nehmen können, gibt es eine Chance, den Teufelskreis zu durchbrechen, in dem sich lange Phasen großen Leids mit gewaltsamen Lösungsversuchen von gesellschaftlichen Konflikten ablösen. Dies würde wiederum ermöglichen, den elemantaren Reformprozeß, den die chinesische Gesellschaft derzeit durchläuft, in einem stabileren Klima weiterzuführen.

Ich habe beschlossen, auch nach dem 1. Juli 1997 in Hongkong zu bleiben. Das „Problem“ der chinesischen Arbeiterklasse ist das schwerste und dringlichste, mit dem sich die chinesische Regierung wird auseinandersetzen müssen. Ihre Angst vor unabhängigen Gewerkschaften wächst. Obwohl wir immer wieder versichert haben, nicht auf politischer Ebene gegen die Regierung zu kämpfen, macht ihnen bereits unsere pure Existenz Angst, und ihre Angriffe gegen uns werden härter werden.

Han Dongfang lebt in Hongkong. Er ist Mitbegründer der unabhängigen Arbeiterbewegung und Gründungsmitglied des in Hongkong erscheinenden „China Labour Bulletin“.