Ein Hörbares Gesicht für den Wintertag

■ Die „Aktion 29. Januar“: Zum dritten Mal nach 1947 und 1977 schrieben Menschen für den NDR eine 24-Stunden-Chronik – 1.200 Hörer beteiligten sich in diesem Jahr

Der Tag gähnt vor Durchschnittlichkeit. Aufstehen, anziehen, Frühstück. Frühstück ist wichtig. Überhaupt ist Essen wichtig, hat NDR-Redakteurin Ursula Voss gelernt. „Ich war echt überrascht, wieviele Gedanken die Leute sich um ihre Mahlzeiten machen“, sagt Voss, nachdem sie 300 Beschreibungen des 29. Januars 1997 gelesen hat, geschrieben von Männern und Frauen aus Norddeutschland.

900 Tageschroniken müssen Voss und ihr Mitarbeiter Hartwig Tegeler noch lesen, dann haben sie die „Aktion 29. Januar“ausgewertet. Zum dritten Mal hatten der NDR und Radio Bremen in diesem Jahr ihre Hörer aufgefordert, anonym den Tag zu beschreiben – in Briefen, Faxen oder auf Audio-Cassetten. 1.200 Menschen beteiligten sich, viele davon sind Rentner. Der Hundespaziergang, Frühstücksmüsli, Gedränge in der U-Bahn: Nichts scheint zu öde, um es zu dokumentieren. Und nur wenig zu intim: Eine Frau schickt einen Liebesbrief, jemand anderes erzählt von seinem Sexleben.

Zwar sind 1.200 Briefe wenig im Vergleich zu den 35.000, die NDR-Chefdramaturg Ernst Schnabel bei der ersten Aktion 1947 bekam. „Aber damals hatte das Radio auch noch einen höheren Stellenwert“, gibt Tegeler zu bedenken. Als Schnabel seine Idee 30 Jahre später, am 29. Januar 1977, wiederholte, beteiligten sich noch 2.500 Menschen. Wie Schnabel wollen Voss und Tegeler aus den Briefen eine einstündige Feature-Sendung bauen, gemischt mit Beiträgen von elf Reportern, die an diesem Tag unterwegs waren. Sie haben Interviews gemacht und Geräusche aufgezeichnet, wie man sie zum Beispiel nachts um eins am Michel hört. Pfingsten soll das Feature auf NDR 4 gesendet werden, Motto: „Dem Tag ein Gesicht geben“. Dazu gehört auch, daß sich viele Briefe mit politischen Themen beschäftigen. Mit knappen Arbeitsplätzen beispielsweise, mit der Rentenreform oder mit BSE.

So auch der Brief, den Ursula Voss bisher am bewegendsten fand: „Ich werde gleich bei der Telefonseelsorge anrufen“, schreibt eine 81jährige. Sie halte den Kummer ihres Sohnes nicht mehr aus, der keine Arbeit findet und täglich Trost bei seiner Mutter sucht. Ihre Tageschronik hat gute Chancen, in die Sendung aufgenommen zu werden. Dann wird ihn eine Schauspielerin vorlesen, wie auch Hartwig Tegelers Brieffavoriten – den einer Frau, die mit ihrem krebskranken Mann zum wahrscheinlich letzlen Mal in einem Café sitzt.

Zwar sind die meisten Beiträge weniger dramatisch, deshalb aber nicht uninteressanter, beteuert Voss. Immerhin hält sich das Gerücht, daß Ideengeber Ernst Schnabel den 29. Januar gerade deshalb ausgesucht hat, weil der Tag so durchschnittlich ist. „Die wahrscheinlichere Begründung ist aber“, erzählt Hartwig Tegeler, „daß Schnabel und Kollegen am gleichen Tag Geburtstag hatten“. Im Grunde sei es aber egal, warum werauchimmer diesen Tag gewählt hat, meint Voss und benickt den Schlußsatz einer Frau, die 1977 meinte: „Daß ich schreiben durfte, hat dem Tag ein Gesicht gegeben.

Judith Weber