Placebo und Projektion

„Romanfabrikantin“mit sozialkritischem Blick auf Frauen: Margarete Böhme, eine Erfolgsschriftstellerin aus Husum  ■ Von Kay Dohnke

Literatur aus Husum? Na klar, Theodor Storm. Schreibende Frauen aus Husum? Nur wenigen fällt hier Fanny Reventlow ein; Margarete Böhme aber kennt fast niemand. Die Vertreterin einer frühen sozialkritischen Frauenliteratur wird bis heute oft übersehen. Auch von der feministischen Literaturforschung.

Früh schon beginnt Margarete Feddersen, 1867 geborene Absolventin der höheren Töchterschule in Husum, mit dem Schreiben aufregender Geschichten über die großstädtische Gesellschaft – Menschen, die sie nie getroffen hat, und Schauplätze, die sie allenfalls aus kurzen Stippvisiten nach Hamburg kennt. Doch muß der Husumer Alltagshorizont die Vorstellungsgabe der jungen Frau keineswegs begrenzen.

Ihre Romane sind Placebo und Projektion zugleich, Gegenentwurf zum langweiligen Dasein in der grauen Küstenstadt und erzählerische Konstruktion meist fremder Lebensbedingungen, von denen sie in Wirklichkeit nur herzlich wenig weiß. Wundersame Kräfte der Liebe und des Schicksals spielen noch eine stärkere Rolle als soziale oder politische Faktoren, und mysteriöse Verwicklungen werden als spannungerhöhende Zutat ebenfalls gern verwendet.

Irgendwann wagt die junge Frau den Schritt an die Öffentlichkeit. Ihr Schreiben trifft den Geschmack der Zeit: Erzählungen und Romane erscheinen in verschiedenen Journalen, 1892 druckt die Deutsche Novellenzeitung ihren „phantastischen Hamburger Roman“Das Geheimnis der Rosenpassage. „Damals war meine Schriftstellerei eigentlich nur eine spielerische Betätigung für meine lebhafte Phantasie“, erinnert sich die Autorin später.

Doch hat dieses Spiel eine wichtige Komponente: Es läßt sich damit Geld verdienen. Und so publiziert sie in dichter Folge unterhaltende Fortsetzungsromane, teils unter richtigem Namen, teils unter dem exotischen Pseudonym Ormnos Sandor. Oft liefert Hamburg – das echte oder das erträumte – Handlungsort und sozialen Rahmen für triviale Geschichten, die noch literarische Dutzendware sind.

1894 heiratet Margarete Feddersen den 20 Jahre älteren Zeitungsverleger Friedrich Böhme und zieht mit ihm nach Boppard am Rhein. Sie wechselt Namen und Wohnort, lernt neue Lebensverhältnisse kennen, schreibt. Nach sechs Jahren verläßt sie den Mann und geht mit ihrer Tochter nach Berlin, wo sie ihr „Talent zur Erwerbsquelle“macht und als „armselige Romanfabrikantin“erneut ihre Phantasie vermarktet. Der Input: Schreibtischarbeit rund um die Uhr. Der Output: vier vertraglich zugesicherte Romane im Jahr. Der Hungerlohn: 600 bis 800 Mark pro Manuskript.

1905 gelingt ihr ein großer Wurf: Vom Tagebuch einer Verlorenen – der Geschichte einer Prostituierten – verkaufen sich im selben Jahr 90.000 Exemplare. Das Buch wird zum Sensationserfolg, erscheint in 14 Sprachen und erreicht 1,2 Millionen Gesamtauflage. Persiflagen, Satiren, Bühnenbearbeitungen folgen. 1918 macht Richard Oswald einen ersten Kinofilm aus der Geschichte, 1929 setzt G. W. Pabst sie mit Louise Brooks in der Hauptrolle erneut filmisch um.

Das Tagebuch wird zum Einschnitt in Margarete Böhmes Werk und beendet die eher triviale Phase. Mit anhaltend kritischer Perspektive auf die soziale Realität schildert sie 1907 im Roman Mietze Biedenbachs Erlebnisse das Leben einer Kellnerin, 1913 in Christine Immersen die Arbeit einer Berliner Telefonistin. 1911 hatte sie im Roman W.A.G.M.U.S. – Warenhaus-Aktiengesellschaft Müllenmeister und Sohn – die Welt der Kaufhäuser präzise skizziert. „Der Literatur fehlte bislang ein Roman aus diesem Milieu, zu Papier gebracht mit der eines Zola und seine Rougon-Macquardt würdigen Feder“, schrieb 1910 ein italienischer Kritiker.

Neben diesem Hauptgebiet ihrer Arbeit bedient sie souverän auch andere literarische Genres. „Heimatliche“Romane erreichen ein regionales Publikum – mit ungewohnter Ausrichtung: In Sarah von Lindholm schildert sie 1914 eine Frau, die als Werftbesitzerin einen Industriebetrieb leitet. Später erzwingen wirtschaftliche Probleme Margarete Böhmes Rückkehr in den trivialeren Buchmarkt, doch immer bleiben Frauen im Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit.

1925 stellt die Böhme ihre literarische Arbeit ein. Aus ihrem umfangreichen Werk sind erst 40 Romane bekannt; die Gesamtzahl dürfte weit höher liegen. 1930 zieht sie in die Nähe ihrer Tochter nach Hamburg-Othmarschen. Am 23. Mai 1939 stirbt mit Margarete Böhme eine Autorin, deren wichtiger Beitrag zur deutschen Frauenliteratur bis heute erst in Ansätzen wahrgenommen wird.