Die Bars nahe dem Berg

Ton, Schweine, Scherben: der Monte di Testaccio. Rund um Roms antike Müllkippe. Nur selten verirrt sich ein Tourist hierher  ■ Von Monika Schmittner

Wenn es einen Ort in Rom gibt, den die Römer mehr lieben als das Kolosseum, die Piazza Navona oder den Campo de Fiori, so ist dies mit Sicherheit der Monte di Testaccio, in Tibernähe, unweit der Cestius-Pyramide. Mitten im Herzen des gleichnamigen Stadtviertels erhebt sich recht unscheinbar und enttäuschend farblos, fast häßlich, dieser kleine, etwa 40 bis 50 Meter hohe Hügel, der so viel städtische Geschichte und Geschichten kennt wie kaum ein anderer Ort in der Ewigen Stadt. Vom alten Rom bis in die Postmoderne hat er alle und alles gesehen: Konsule und Sklaven, Päpste und Schweine, Kreuze und Kanonen, Damen und Dämchen, Hurensöhne und Trunkenbolde, Tragik und Tragödien, Dichter und Denker, Flower-power, Schickimickis, Handwerker und die Handy-Generation. Bei einem Spaziergang rund um den mit Gras und Krüppelbüschen bewachsenen, an den Hängen zum Teil mit Häusern bebauten Testaccio läßt sich seine Geschichte am besten erahnen.

Bevor im alten Rom der Hafen von Ostia erbaut wurde, befand sich hier das städtische Hafengebiet mit seinen Großmarkt- und Lagerhallen. Schiffe, Flöße und Kähne legten am Tiberufer an und entluden ihre Waren: Getreide, Öl, Wein und andere Lebensmittel. Nicht selten gingen dabei die zeitgemäßen Transportbehälter – nicht recycelbare Terracotta-Amphoren – zu Bruch und wurden auf einen Haufen geworfen. Da kam einiges an Scherben (testae) zusammen. Der größte Teil der antiken Abfallhalde stammt aber von Amphoren, die Öl aus Andalusien und Afrika enthielten. Öldurchtränkt konnten sie nicht mehr weiterverwendet werden und wurden, aus Ermangelung einer besseren Lösung, in kleine Stücke zerschlagen. Dies trug sich im frühen römischen Kaiserreich zu und dauerte mit Sicherheit einige Jahrzehnte. Um 53 Millionen Amphoren in Scherben auf 22.000 Quadratmeter anzuhäufen, braucht es seine Zeit.

Im 16. Jahrhundert war der Monte di Testaccio, auch Monte dei Cocci – Tonscherbenberg – genannt, Schauplatz äußerst beliebter Karnevalspiele. Rund um den Hügel wurden Turniere abgehalten, Pferderennen veranstaltet und makabre Wettkämpfe mit Schweinen oder Stieren ausgetragen. Für letzteres Spektakel zog man sechs Karren mit je zwei an den Beinen zusammengebundenen Schweinen auf den Gipfel des künstlichen Berges, stieß sie hinunter, bis sie auseinanderbrachen und kampflustige junge Männer sich mit Schwerthieben die Tiere gegenseitig streitig machten. Raufereien und Verletzte ließen sich dabei kaum vermeiden. Die erbeuteten Tierkadaver beziehungsweise das, was von ihnen noch übrig war, präsentierten die stolzen Sieger als Trophäen der tobenden Menge.

Gegen Ende des 16. Jahrhunderts verschärfte Papst Clemens VIII. das Vorgehen der Inquisition und erprobte neuartige Steinschleudermaschinen. Der Testaccio diente als praktische Zielscheibe und bekam so manchen Volltreffer ab. Gut hundert Jahre später, 1708, um genau zu sein, visionierte ein Karmeliterpater namens Angiolo im Tonscherbenberg den Kalvarienberg und war besessen von der Idee, dort oben drei Kreuze aufzustellen. Er schaffte – aus welchen Gründen auch immer – aber nur eines, und auch das stand nicht gerade unter Gottes Segen: Religiöser Fanatismus, Vandalismus und Wetterunbilden machten ihm das Leben schwer. Heute ist es wieder auf „seinem“ Platz.

Deftige Trinkgelage und heimliche Amouren gab es auf Roms „Monte Scherbelino“ schon immer. Ausgesprochen in Mode kam er so richtig im 18. und 19. Jahrhundert. Junge Römerinnen, hübsch und wohlgenährt, putzten sich für ihre Ausflüge ordentlich heraus. Kurzum: Es war ein Flanieren im großen Stil. Diese „Spaziergänge“ konnten bis weit in die zweite Hälfte des letzten Jahrhunderts ihre Tradition bewahren, mit einer kurzen Unterbrechung im Jahre 1849. Während der Belagerung von Rom wurden drei Kanonen auf dem Tonscherbenberg plaziert, die das französische Lager von San Paolo ausdauernd und zielgenau unter Beschuß nahmen. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts schließlich feierten junge Leute aus dem Montiviertel und aus Trastevere auf dem kuriosen Hügel ausgelassene Feste und volkstümliche Bälle, vom Maler Pinelli verewigt.

Um Wein kühl zu lagern, wurden schon im 17. Jahrhundert tiefe Höhlen in den Testaccio geschlagen. Dort haben sich heute etliche Nachtlokale angesiedelt. In den siebziger Jahren entwickelte sich die Gegend zum Mekka für Theater-, Musik- und Kunstfreunde. Laute Rockkonzerte, Folkfestivals und Jazzabende in den Kellern setzten der alteingesessenen Bevölkerung heftig zu. Heute herrscht tagsüber geschäftiges Treiben in diesem volkstümlichen, vielleicht letzten authentischen Stadtteil Roms mit seinen Läden und Trattorien und dem großen Markt auf der Piazza di Testaccio. Nur selten verirrt sich ein Tourist in dieses äußerlich wenig attraktive ehemalige Arbeiterviertel. Abends jedoch, wenn rund um den „Mattatoio“, dem alten Schlachthof nahe am Berg, die Bars und Discos öffnen, erwacht es zu einem ganz neuen Leben.

Die Nachtschwärmer – Junge und Junggebliebene, Studenten und Berufstätige, alle im obligatorischen Schwarz und reichlich gestylt mit viel Haargel, noch mehr Make-up und Piercing allerorten – treffen sich nicht vor 23 Uhr in der Bar „Seme e la Foglia“, wenige hundert Meter vom Berg entfernt. Hier füllt man sich schon halb ab und versorgt sich mit Zigaretten, da alles wesentlich billiger ist als in den Clubs. Gegen Mitternacht geht's dann rein ins Akab, ins Café Latino, Picasso, Caruso, Radio Londra oder ins Alibi, dem heiligen Tempel des schwulen Rom und richtig für jeden, der starke Atmosphäre schätzt. Die Lokale sind zahlreich, das Musikangebot aber wenig differenziert: jede Menge Disco, jede Menge House Music, Abende mit Black Music und Acid Funk, gelegentlich auch Latin Music (im Caruso). Das „Alibi“ hat sich einen letzten Rest römischen Undergrounds bewahrt trotz schriller Abende unter dem Motto „Schwuler Marathon“ oder „Bad des Orients“.

Vor den Nachtlokalen walten Türsteher und Rausschmeißer ihres Amtes. Die Methoden der zwei vom „Akab“ sind bereits in die Geschichte des Testaccio eingegangen wie weiland die päpstlichen Steinschleudermaschinen. Aber auch das kann den alten Tonscherbenberg nicht mehr erschüttern. Er schweigt und denkt sich seinen Teil.

Der Monte di Testaccio ist eingezäunt und kann derzeit nur unter kommunaler Führung bestiegen werden. Information: Via del Portico d'Ottavia 29, Tel. 6710 3819. Der Eingang befindet sich Ecke Via Galvani/Via Nicola Zabaglia.