Schäfchen im Trockenen

Für die meisten Touristen ist sie ein blinder Fleck im urlaubsplanenden Auge, für etwa 30.000 Schafe jedoch das Herz der Welt: die Crau-Ebene zwischen Arles und Salon-de-Provence  ■ Von Frank Seidel

In den meisten Reiseführern kommt die Crau erst gar nicht vor, und wenn, dann wird sie in einem Satz mit „öder Landstrich an der N 113“ abgetan. Tatsächlich handelt es sich jedoch um eine in Europa einzigartige Landschaft. Daß auf der mit Steinen übersäten Ebene quadratkilometerweit weder Baum noch Strauch wachsen, läßt sich nicht wegdiskutieren. Eine wasserundurchlässige Gesteinsschicht trennt die Bodenoberfläche vom darunterliegenden Grundwasser und läßt nur eine spärliche Grasvegetation, „Coussous“ genannt, überleben. Unwillkürlich fühlt man sich an die Steppen Australiens oder Amerikas erinnert. Die Luft flimmert, Heuschrecken zirpen, und nur hier und da flattert mal eine Elster von Steinhaufen zu Steinhaufen. Jedenfalls die meiste Zeit des Jahres. Im Herbst nämlich verwandelt sich die Crau unter den vermehrten Regenfällen in ein wahres Gänseblümchenmeer. Sie zeigt sich dann den Besuchern von ihrer attraktivsten Seite.

Die Schafbeweidung war lange die einzige Nutzungsform, die der Mensch für das extreme Klima fand. Seit 1992 ein Hobbyarchäologe die Reste Dutzender altrömischer Schafställe entdeckte, weiß man, daß diese Wirtschaftsweise eine 2.000 Jahre alte Tradition hat. Deren neuzeitlichen Zeugen sind heute als alte Schafställe weithin sichtbar. Die Wände aus weichem Kalkstein nutzen die Schäfer in Mußestunden, um dort einfach nur ihren Namen oder auch kunstvollere Ornamente einzuritzen.

Die Schafherden der lokalen Rasse „Merinos d'Arles“ halten sich nur während des niederschlagsreichen Frühjahrs im dann üppig wachsenden Coussous auf. Während der sommerlichen Dürreperiode weichen sie auf die Almweiden der Alpen aus, um mit den ersten Schneefällen des Herbstes wieder in die Ebene zurückzukehren, diesmal jedoch auf bewässerte Heuwiesen im Norden der Region. Diese Art der Wanderweidewirtschaft wird Transhumanz genannt und ist auch in anderen europäischen Trockengebieten wie beispielsweise der spanischen Extremadura verbreitet. Während dort die Wanderungen seit neuestem wieder wie einst zu Fuß bewältigt werden, werden in der Provence die Tiere mit LKWs von einem Weidegebiet ins andere transportiert.

Im Laufe der Jahrhunderte bildete sich zwischen Menschen und Natur ein Gleichgewicht aus, von dem seltene Tier- und Pflanzenarten profitieren. Die Charaktervögel der Crau tragen ungewohnte Namen wie Spießflughuhn, Triel oder Zwergtrappe und sind wahre Meister der Tarnung. Es gehört schon ein aufmerksames Auge und ein wenig Glück dazu, die scheuen Bewohner zu entdecken. Die Steinsteppe stellt eines der letzten Verbreitungsgebiete dieser Arten dar. Die flugunfähige Crau- Schrecke und der kleinwüchsige, blaublühende Crau-Gamander kommen nur hier vor.

Idealer Ausgangspunkt für das Erleben der Crau ist das Ecomusée de la Crau in St. Martin-de-Crau, das in seiner Ausstellung viel Wissenswertes sowohl über die traditionelle Schafhaltung als auch die typische Lebensgemeinschaft des Coussous zeigt. Daneben hat ein privater Liebhaber dem Museum auch seine Sammlung von Werkzeugen alter Handwerksberufe zur Verfügung gestellt, die ebenfalls besichtigt werden kann. Von hier aus werden individuelle Führungen in deutscher Sprache in ein 162 Hektar großes Schutzgebiet organisiert.

Von der 13.000-Einwohner- Stadt St. Martin aus kann man die ganze Region erkunden. Im Westen bietet die Camargue zusammen mit den Alt-Städten Arles und Nimes eine gelungene Mischung von Natur und Kultur. Im Norden kann man den Spuren berühmter Künstler dem Gebirgszug der Alpilles entlang folgen. In St. Remy-de-Provence war Vincent van Gogh in psychiatrischer Behandlung, und irgendwo in der Nähe von Tarascon stand die Mühle, in der Alphonse Daudet seine „Briefe aus meiner Mühle“ schrieb. Im Osten kündigen sich in Aix-en-Provence die Touristenmassen der Côte d'Azur an, während man an den Stränden im Süden hauptsächlich auf Einheimische trifft.

Weitere Auskünfte (auch in deutscher Sprache) zu Führungen und Unterkunftsmöglichkeiten vor Ort: Ecomusée de la Crau, Avenue de Provence, F-13 310 St. Martin- de-Crau, Frankreich

Literatur:

Naturreiseführer „Die Crau – Steinsteppe voller Leben“ von Andreas Megerle und Jürgen Resch. 116 Seiten, Farbfotos, Karten, 20 DM. ISBN 3-9801641-9-1.

Erhältlich bei Euronatur, Güttingerstr. 19, 78 315 Radolfzell.

(2 Mark des Verkaufserlöses kommen dem Schutzprojekt „Crau“ zugute)