Leib, Seele und Geist

■ Der Hamburger Pathologe Volker Fintelmann erwartet von seinen Kollegen vor allem eines: die Medizin nicht zur Weltanschauung zu machen

Prof. Dr. med. Volker Fintelmann praktiziert am Krankenhaus im Hamburger Stadtteil Rissen, das über eine Sektion „Anthroposophisch Ergänzte Medizin“ verfügt und dessen medizinischer Direktor er von 1986 bis 1996 war.

taz: Der 1921 von Rudolf Steiner und Ita Wegmann begründete medizinische Ansatz der Anthroposophie gilt als eine Ergänzung zur sogenannten Schulmedizin. Welche Therapieformen gibt es?

Volker Fintelmann: Es gibt zunächst die gleichen Therapieformen wie in der Schulmedizin. Es werden die dort üblichen Arzneimittel verwendet und zum Beispiel mit homöopathischen, naturheilkundlich-phytotherapeutischen (Phytotherapie: Pflanzenheilkunde, Red.), aber auch Heilmitteln ganz eigener Art ergänzt. Ein zweiter, wesentlicher Aspekt sind künstlerische Therapien: Schwerpunkt ist die Heileurythmie, aber auch Musiktherapie, Malen, Plastizieren und die Sprachtherapie. Ein drittes, unverzichtbares Element ist das Gespräch, um die Wurzeln der Krankheit aufzuspüren.

Stehen sich mit Anthroposophie und Schulmedizin nicht zwei gegensätzliche Weltanschauungen gegenüber?

Wenn man die Medizin zur Weltanschauung macht, ja. Dann würde die Schulmedizin sich — ganz materialistisch — nur für chemische, physikalische und mechanische Nachweismethoden interessieren, während die Anthroposophie — sehr spirituell — nur das Geistig-Seelische des Menschen betont. Rudolf Steiners Idee war aber, die beiden Auffassungen der naturwissenschaftlichen und geisteswissenschaftlichen Art zusammenzuführen und den Menschen als das zu nehmen, was er ist: Leib, Seele und Geist.

Inwieweit kann mit anthroposophischen Heilmethoden eine Krankheit verkürzt oder die Medikamentendosis verringert werden?

Zeitverkürzung, das ist eher selten. Da wir ja tendenziell mit dem gesamten Organismus arbeiten, brauchen wir eher etwas länger als die rasch wirkenden, symptomatisch orientierten Mittel. Wir behandeln eben einen Kopfschmerz nicht mit Aspirin, sondern versuchen statt dessen, seine Ursache herauszufinden und zu behandeln. Deshalb kann es sein, daß der Kopfschmerz erst allmählich verschwindet — aber dann ist er auch für alle Zeiten weg. Eine umfassende statistische Untersuchung unserer Behandlung der Lungenentzündung zeigte allerdings auch, daß Patienten mit der anthroposophischen Therapie drei Tage kürzer als mit streng antibiotischer Behandlung im Krankenhaus waren.

Wie „wissenschaftlich“ sind anthroposophische Therapien, gibt es Untersuchungen über Erfolgsquoten?

Davon gibt es noch sehr, sehr wenig. Weil wir so stark auf den einzelnen Patienten schauen, ist es uns sehr schwer vorstellbar, Erfolge anhand von „Durchschnittsmenschen“ abzuleiten. Daß wir unsere Arbeit noch nicht in dem Maße dokumentiert haben wie die Wissenschaftsmedizin, ist ein echter Mangel.

Seit wann werden vergleichende Untersuchungen zwischen anthroposophischer und Wissenschaftsmedizin angestellt?

Verstärkt in den letzten vier bis fünf Jahren. Im Augenblick machen wir gemeinsam mit der anthroposophischen Abteilung der Stuttgarter Filderklinik und zwei Rheumakliniken in Bad Pyrmont und Minden eine auf fünf Jahre angelegte Studie über rheumatische Entzündungskrankheiten

Wie hat sich aus Ihrer Sicht das Verhältnis zu den Schulmedizinern verändert?

Im letzten Jahrzehnt sind grundlegende Veränderungen eingetreten. Am Anfang ist man natürlich etwas belächelt oder auch gar nicht verstanden worden. Mittlerweile können wir unsere Anerkennung daran ablesen, daß uns Ärzte praktisch jedes Hamburger Krankenhauses anrufen und sagen, „wir haben hier einen Patienten, den wir gerne in eure Behandlung geben würden“.

Was für Fälle waren das?

Das sind einerseits die Krebskranken, aber auch Patienten mit chronischen Leiden wie Rheuma und Multipler Sklerose. Erkrankungen eben, wo die Schulmedizin keine wirklich etablierte Therapie und damit nicht die Möglichkeit einer langfristigen Heilung hat. Es kommen aber zunehmend auch solche Patienten, die von sich aus keine rein schulmedizinische Behandlung mitmachen wollen.

Gibt es eine Annäherung von seiten der Schulmedizin, oder wurden auch anthroposophische Konzepte aufgegriffen?

Ja, ich denke, die Misteltherapie bei Krebs ist jetzt aufgenommen worden. Sie befindet sich aber noch im kritischen Stadium der naturwissenschaftlichen Untersuchung und soll dabei vom „anthroposophischen Ballast“ befreit werden. Auch die Kunsttherapien sind heute in weiten Bereichen der Psychosomatik integriert. Wirkliche anthroposophische Elemente werden in der Schulmedizin aber noch nicht benutzt.

Behindert die anthroposophische Weltanschauung nicht zugleich die Verbreitung solcher Heilmethoden?

Natürlich, darüber muß man sich im klaren sein. Auch die Schulmedizin beinhaltet schließlich eine Weltanschauung — eben die rein naturwissenschaftliche. Ich glaube, am schwersten tut sie sich damit zu akzeptieren, daß in jedem Menschen ein real Geistiges lebt.

Spielt denn die Idee vom Kreislauf der Wiedergeburt in der anthroposophischen Medizin eine Rolle?

Mit der praktischen Medizin hat das nichts zu tun. Die muß jetzt, hier und heute, arbeiten. Wenn jemand mit akuter Lungenentzündung kommt, kann ich nicht über Reinkarnation und Karma nachdenken, sondern muß erst mal dafür Sorge tragen, daß er wieder gesund wird. Für den anthroposophischen Arzt und sein Verständnis von Krankheit aber spielen Gedanken wie Wiederverkörperung oder Schicksalsgesetz durchaus eine Rolle.

Mit welcher Konsequenz?

Es gibt vermutlich viele, die in ein solches gedankliches Konzept nicht einsteigen können. Ich glaube, es wäre ganz falsch, sich die anthroposophische Medizin als eine Medizin für alle Menschen vorzustellen. Sie ist allerdings ein im besten Sinne alternatives Angebot, wenn sie der modernen Medizin begreifbar machen hilft, daß der Mensch mehr ist als ein Automat. Interview: Mechthild Klein