■ Schöner Leben: Luftloch am Eck
Samstag nachmittag, die Geschäfte haben zu, die EinkäuferInnen sitzen längst zu Hause, hören Bundesliga am Radio, schrubben dabei Badewannen, wischen Kückenböden. Viel Platz auf den Straßen, viel Entspannung, die Hatz ist für ein paar Stunden vorbei. Ein paar Stunden noch, dann geht der Saturday-Night-Streß los. Das Ampelmännchen an der Sielwallkreuzung zeigt auf rot. Ein junger Mann steht da und wartet, über seiner Schulter, eng an seinen Hals geschmiegt und von ihm mit unendlicher Sanftheit gehalten, schlummert ein Baby. Satt, selig, die Stirne kraus, weil die letzten Sonnenstrahlen durch die geschlossenen Lider scheinen. Ein Kurzzeitidyll, direkt am Gifteck.
Eine Junkiefrau stolpert um die Kurve, müde, abgekämpft, ausgebleichte Haare um ein hageres ausgezehrtes Gesicht. Schleppt sich mühsam voran, hebt den Kopf, sieht Mann und Kind – und das Leben kehrt in die Frau zurück. Zuerst nur zögernd wollen die Worte aus dem Mund, dann aber immer schneller. Ob das ein Junge sei. „Nee, ein Mädchen“, sagt der junge Mann freundlich. „Ich dachte nur, wegen der blauen Mütze“– „jaja, denken alle“. Kommt näher, und ganz beglückt über das neue Leben. „Ist müde von der vielen frischen Luft“– „nein, ist satt, kommt gerade von der Mutter“. „Ach ja, meine Kinder sind schon so groß, war aber ne schöne Zeit, als sie noch so klein waren. Ach.“
Das Ampelmännchen wird grün. Der junge Mann lächelt freundlich, geht. „Und viel Glück“, ruft sie ihm noch hinterher. Ganz voll Sehnsucht, das Luftloch in ihrer Atemlosigkeit möge doch noch ein wenig andauern. Bis das Gesicht wieder nach innen klappt, die Beine wieder schwer werden. Jochen Grabler
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