Russisch ist hier die Amtssprache

Wenn am kommenden Sonntag die Mitglieder der jüdischen Gemeinde ihre neue Repräsentantenversammlung wählen, stehen sich wie in der Weimarer Republik Tradition und Moderne gegenüber  ■ Von Barbara Junge

Das Manuskript flattert einsam auf dem kleinen Tisch am Eingang. Heinz Rotholz, der wie fast alle auf dem Podium im Saal deutsch spricht, hat seine Bewerbungsrede für die Repräsentantenversammlung der jüdischen Gemeinde auf russisch ausgelegt. Damit hat der Kaufmann seinen ersten Stich gemacht – Russisch ist hier die Amtssprache. Im Centrum Judaicum in der Oranienburger Straße ist der gebürtige Berliner einer von acht KandidatInnen, die sich letzte Woche dem Wahlvolk stellten. Und das Wahlvolk – zur Hälfte EmigrantInnen aus der ehemaligen Sowjetunion, die seit dem Mauerfall die Mitgliederzahl der Gemeinde verdoppelt haben – ist an diesem Abend ausschließlich russisch.

Am nächsten Sonntag wird gewählt. Und eines ist jetzt schon entschieden, die Repräsentantenversammlung wird eine ganz andere sein: Der amtierende Vorsitzende Jerzy Kanal tritt nicht noch einmal an. Der von ihm geführte Liberal- Jüdische Block (LJB) ist ebenso auseinandergefallen wie die bisherige Opposition, die Demokratische Liste unter Moishe Waks. Der Skandal um die Grundstücksgeschäfte hat die Gemeinde Ansehen gekostet, wie Igor Polianski, der Historiker aus Petersburg, betont: „Das moralische Kapital ist entwertet worden.“

Dennoch, was die Gemeinde viel mehr bewegt, sind Spannungen zwischen Alteingesessenen und Neuzugewanderten, zwischen dem etablierten, säkularisierten Westberliner Judentum und dem traditionsgeprägten Milieu der JüdInnen aus dem Osten.

56 Kandidatinnen und Kandidaten wollen am 1. Juni gewählt werden. Nur 21 von ihnen werden in die Repräsentantenversammlung einziehen können. Und obwohl sich die Blöcke aufgelöst haben und eine reine Personenwahl stattfinden soll, stellen sich schon wieder neue Listen zur Wahl. „Die Stimme der schweigenden Mehrheit“ unter Führung des einzigen gebürtigen Berliners auf der Liste, Albert Meyer, zwingt alle, die gewählt werden wollen, die Probleme der EmigrantInnen in den Mittelpunkt des Geschehens der Gemeinde zu stellen.

„Das Team“, zu dem Heinz Rotholz gehört – eine Verbindung von Alteingesessenen und Zugewanderten –, ist trotz seiner Zusammensetzung in die Rolle der „Westjuden“ gedrängt. Namhafte Intellektuelle wie Andreas Nachama, Direktor der Stiftung Topographie des Terrors, Julius Schoeps, Leiter des Moses-Mendelssohn-Zentrums für europäisch-jüdische Studien, und Hermann Simon, Direktor des Centrum Judaicum, stehen für das integrierte westdeutsche Judentum. Sie gelten als heimliche Kandidaten für den Vorsitz. „Unterschiedliche Herkunft – Gemeinsame Ziele“ ist einer der Wahlslogans des „Teams“.

Der Generationswechsel, das Aufeinandertreffen von „Ost- und Westjuden“ beim Wahlkampf zur Repräsentantenversammlung, steht für unterschiedliche jüdische Identitäten in der Stadt.

Mit dem Zuzug der „Ostjuden“ setzt eine Generation den Fuß ins Land, die die bundesrepublikanische Entwicklung nicht miterlebt hat. In der Sowjetunion lebten JüdInnen höchstens versteckt ihre Traditionen, nicht im Austausch mit der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung, aber auch nicht anerkannt. Im stillen hat sich deshalb eine sehr traditionelle, oft reaktionäre Religiosität erhalten können – ganz anders als das jüdische Leben hierzulande.

Die fortgesetzte Säkularisierung hat in Berlin auch vor der jüdischen Gemeinde nicht haltgemacht. Die jüdische Gemeinde ist in der Hauptstadt der Täter ein Teil der Gesellschaft. Was sich im Gegensatz zu der östlichen Erfahrung jedoch hier gehalten hat, ist der feste identitätsstiftende Bezug auf den Holocaust.

Fortgesetzte Ausblendung jüdischer Kultur und Tradition in der ehemaligen Sowjetunion konfrontierte die JüdInnen dort mit handfesteren praktischen Problemen, eine Erfahrung, die sich durch die Emigration nach Berlin fortgesetzt hat.

Die EmigrantInnen, die als Kontingentflüchtlinge in die Bundesrepublik kamen, und ihre sozialen Ansprüche und Bedürfnisse bedeuten heute für die jüdische Gemeinde eine noch vor fünf Jahren kaum vorstellbare Chance.

Die Gemeinde hat sich verdoppelt, das jüdische Leben ist wieder sichtbar im Alltag der Stadt: ob im Beth-Café in der Tucholskystraße, ob im jüdischen Lebensmittelladen gegenüber, ob in den sanierten Synagogen in Ostberlin. Und obwohl ein hoher Anteil der Zugewanderten schon das Rentenalter erreicht hat, füllen sich der jüdische Kindergarten am Wannsee und die Schule in der Großen Hamburger Straße, sind die meisten der JüdInnen aus der ehemaligen Sowjetunion akademisch gebildet und setzt jemand wie Julius Schoeps große Hoffnungen auf das Wiedererblühen eines intellektuellen jüdischen Lebens in Berlin – wie zuletzt in der Weimarer Republik.