Warnen, mahnen, bewahren

Edward Said erklärt, wie man ganz einfach zum kritischen Intellektuellen werden kann, falls man nicht schon einer ist. Seine Bastelanleitung „Götter, die keine sind“ liefert alle Einzelteile, die der Heimwerker benötigt  ■ Von Stephan Wackwitz

Edward Said ist der palästinensische Claus Leggewie, die ständige Vertretung seines Volkes in David Lodges „Small World“, in jenem professoralen Jet-set aller international Wohlmeinenden und Billigdenkenden also, denen es inzwischen, damit sie es zu etwas bringen, nicht mehr darauf ankommen darf, in stiller Gelehrtenstube das positive Wissen zu fördern; deren Beruf es vielmehr ist, ihren jeweiligen intellektuellen Markenartikel auf den Kongressen anschlußfähig zu halten, die sie pausenlos bereisen. Während unsereins, je nach Temperament, dumpf oder fröhlich, in den Tag hineinlebt, machen jene sich einen Kopf über die Zukunft der Arbeitsgesellschaft, die internationale Lerngemeinschaft, den Kampf der Kulturen oder, wie Said in dem hier anzuzeigenden Buch, über den „Ort der Intellektuellen“.

Das Berufsbild „kritischer Intellektueller“ steht und fällt bekanntlich mit der Existenz mächtiger, möglichst an irgendwelchen Regierungen beteiligter Arbeiter- und Reformparteien. Müßten Sozialdemokraten, Kommunisten, Sandinisten im politischen Alltag keine verantwortungsethischen Kompromisse eingehen, hätten die Grasse, Pasolinis, Cardenals dieser Welt nichts zu warnen und zu mahnen. In diesem Sprachspiel tritt der kritische Intellektuelle als Hüter der sogenannten Werte vor das Publikum. Edward Said hat es gut. Er hat die PLO und Jassir Arafat. Ihm geht es im Gegensatz zu denen darum, „über alle Hindernisse und Grenzen hinweg ... sich um Ideen und Werte zu kümmern“ und überhaupt „niemals zu vergessen, daß man als Intellektueller die Wahl hat, aktiv und nach besten Kräften die Wahrheit zu vertreten oder sich passiv der Leitung eines Herrn oder einer Autorität zu überlassen“. So schön haben es Grass, Pasolini oder Ernesto Cardenal unter Schmidt-Schnauze, der PCI und Daniel Ortega auch einmal gehabt.

Die in diesen Zitaten offenbarten Wahrheiten wurden von Edward Said der Welt ins Stammbuch geschrieben und hinter den Spiegel gesteckt: pro bono – contra malum. Sie könnten jedoch genausogut von mir oder von Ihnen stammen. Saids Buch ist eine Art Magna Charta des kritischen Intellektuellenstandes. Wer das schön gestaltete Bändchen aus dem Berlin Verlag ersteht, kann den Gesamtschwurbel aus Überheblichkeit, Denkfaulheit, Distinktionsgewinnlerei, Ahnungslosigkeit und Inkonsistenz, den es zum kritisch intellektuell sein braucht, getrost nach Hause tragen und besitzt fortan ein intellektuelles Bastelset, mit dessen Hilfe es jeder – ob Oberschüler, Taxifahrer oder Privatdozent – zum kritischen Intellektuellen bringen könnte: wenn er nicht schon einer wäre.

Uns kritischen Intellektuellen schadet es dabei nur, uns mit zuviel positivem und detailliertem Wissen über das abzuurteilende Sachgebiet zu belasten. Wir sind schließlich „kein Experte, deformiert durch seine treuen Dienste für eine völlig heruntergekommene Macht“. Nein, der „Intellektuelle verfügt über eine andere, auf Grundsätzen beruhende Eigenständigkeit, die es ihm ermöglicht, die Macht mit der Wahrheit zu konfrontieren“.

Werte, das Bedürfnis wie das Gefühl, der Macht eine Wahrheit entgegenzuhalten, werden von Gesellschaften hervorgebracht, die so kompliziert sind, daß sie über keine allgemeinverbindlichen Selbstbeschreibungen mehr verfügen. Je mehr die Kontingenz anwächst, desto dringlicher das Wertbewußtsein und um so ausgeprägter die Karrierechancen, die das Leben in der Wahrheit bietet. Pech nur, daß die Wahrheiten über das große Ganze immer weniger mit der Rationalität zu tun haben, die in den ausdifferenzierten Subsystemen – dort also, wo die tatsächliche Kleinarbeit stattfindet – abgekoppelt vor sich hinarbeitet. Es wird sozusagen immer irrationaler, auf die allgemein obwaltende Irrationalität anklagend hinzuweisen.

Die moderne Gesellschaft verfügt zwar über Mechanismen der Selbsterregung und -alarmierung, über Methoden, allgemeines Unbehagen publizistisch und politisch auszuarbeiten, die „lebensweltliche“ Intuition gegenüber den Systemimperativen habermasmäßig zur Geltung zu bringen. Diese Mechanismen aber sind viel komplizierter, als daß irgendwelche Professoren der Gesellschaft klarmachen, wie der Hase läuft. Von denen lassen sich heutzutage nicht mal mehr die Taxifahrer belehren, sowenig wie die Professoren von den Taxifahrern oder die Politiker von den Journalisten, die Metzger von den Einzelhandelskaufleuten oder die Systemtheoretiker von den Gentechnikern.

Es gibt, das ist die Wahrheit über uns kritische Intellektuelle, überhaupt keinen Berufsstand mehr, der in der Wahrheit ist. Was jeder von uns so im Kopf hat – „Wahnsinn ey, die Gentechnologie. Fällt denen denn niemand in den Arm?“ – „Gräßlich, das in Zaire da. Daß die sich aber auch nicht vertragen können.“ „Der Macht die Wahrheit entgegenzuhalten ist kein hochtrabender Idealismus. Es bedeutet vielmehr, sorgfältig Alternativen abzuwägen, die richtige auszuwählen und sie dann dort intelligent zu vertreten, wo sie am meisten Positives bewirkt und die richtigen Veränderungen herbeiführt“ (Edward Said) – all dieser Schrott kann für Intellektuelle heutzutage nur das Ausgangsmaterial der Arbeit sein. Da wo Edward Said immer schon angekommen ist, könnte die Arbeit losgehen.

Werte sind „blinde Flecken, die zum Beobachten und Handeln ausrüsten“ (Niklaus Luhmann). Mit Hilfe der Intellektuellenfibel Edward Saids kann man sich ein Beobachtungsinstrument basteln, das nur aus blinden Flecken besteht. Edward Said hat es schön: „Alles, was ich hier geschrieben habe, tritt für leidenschaftliches Engagement, Risikobereitschaft, Exponiertheit, Prinzipientreue, Gesprächsbereitschaft und das Sich-Einmischen in weltliche Angelegenheiten ein.“ Ach, wer da mitreisen könnte.

Edward Said: „Götter, die keine sind. Der Ort des Intellektuellen.“ Aus dem Englischen von Peter Geble. Berlin Verlag, Berlin 1997, 144 Seiten, 29,80 DM