Fluchtbewegungen

■ Ungarischer Plebejer trifft polnischen Aristokraten: Istvan Eörsis "Tage mit Gombrowicz" Von Karl-Markus Gauß

Von Karl-Markus Gauß

Witold Gombrowicz war ein Aristokrat, der sich vertraute Nähe verbat, ein Snob, der mit Formen, Masken, Riten zu spielen liebte, ein Emigrant, der politisches Engagement ostentativ verweigerte. Istvan Eörsi ist ein Menschenfreund, dessen Witz plebejisch blitzt, ein Dissident, der bei seiner Überzeugung blieb, ein Autor, der sich auch im Gefängnis und Exil dem Politischen nicht entzog.

Auf den ersten Blick verkörpern Gombrowicz, der Fremde, und Eörsi, der Kritiker der Entfremdung, den reinen Gegensatz. Und doch ist da eine irritierende Verwandtschaft zwischen beiden, eine Nähe im Geistigen, Ästhetischen, sogar im Persönlichen, die überrascht. In einem schmalen Buch hat der 65jährige Eörsi ihr nun nachgespürt und die „Tage mit Gombrowicz“ verfaßt, einen luziden Essay über Ungarn und Europa, den Osten und den Westen, über Kunst und Nation...

Im September 1990, da sich Deutschland eben anschickt, die Wiedervereinigung zu proklamieren, sitzt der Ungar Istvan Eörsi in einem kleinen deutschen Hotelzimmer, schaut sich im Fernsehen die Übertragung eines amerikanischen Tennisturniers an und sucht seine Gedanken über einen polnischen Schriftsteller, der in Argentinien gelebt hat und in Frankreich gestorben ist, zu ordnen.

Eörsi hat nicht vor, eine Monographie zu verfassen, ein einziges Werk ist es, das ihn fasziniert und auf das er sich lesend und schreibend bezieht: Sein Interesse gilt den legendären „Tagebüchern“, die Gombrowicz, der „Apostel der Unreife“, der literarische Zeremonienmeister pubertärer Rituale, zwischen 1953 und 1969 verfaßt hat und die heute seinen literarischen Ruhm nicht minder ausmachen als die Romane „Pordydurke“, „Trans-Atlantik“ oder „Pornographie“.

Diese Tagebücher waren, als sie seinerzeit erschienen, ein Paukenschlag, dessen Echo nicht nur in den osteuropäischen Literaturen lange nachzittern sollte. Als Gombrowicz mit der Niederschrift begann, war er noch nicht der weltberühmte Autor, der er in den folgenden 15 Jahren werden sollte, aber er hatte die wesentlichen Werke, freilich ohne jede öffentliche Resonanz, schon geschrieben. Der 1904 geborene Sohn eines reichen Gutsbesitzers hatte im Warschau der 30er Jahre in den Künstlercafés unter dem Spitznamen „Judenkaiser“ residiert, bevorzugte er doch im antisemitischen Polen die Gesellschaft von Juden. In den Tagebüchern wird er über den Begriff „Rasse“ spekulieren und sich zu erklären trachten, was ihn immer wieder die Nähe von Juden suchen hieß.

Istvan Eörsi, eine Generation später, 1931, geboren, ein ungarischer Jude, der dem Holocaust entrann und zeitlebens seine Erfahrungen mit dem Antisemitismus machte, widerspricht in dem Dialog, in den er mit dem 1969 verstorbenen Gombrowicz tritt, heftig dessen Rassedenken. Für Eörsi, „einen emanzipierten Juden, der nicht in der jüdischen Kultur aufgewachsen ist, der in seinen Atheismus immer auch den Gott Israels einbezog, der sich nicht mit dem jüdischen Staat verbunden fühlt, der für sich vom Judentum also ausschließlich die Diskriminierung hat“, ist die „Rasse“, auch die jüdische, pure Fiktion: Sie ist etwas gänzlich Fremdbestimmtes, wird einem von außen aufgezwungen als zumeist feindseliges, mitunter lebensbedrohliches, gelegentlich auch freundliches Vorurteil.

1939 macht sich Gombrowicz auf eine Schiffsreise. Als er in Argentinien an Land geht, gedenkt er nur ein paar Wochen zu bleiben, aber wenig später überfällt die deutsche Wehrmacht Polen und überzieht Europa mit Krieg. Der Urlauber ist mit einem Mal in dem fernen Land „ganz allein, abgeschnitten, verschollen, verloren, anonym“.

Statt der paar Wochen bleibt er 24 Jahre, wohnt in schäbigen Hotelzimmern, hält Umgang vorwiegend mit der Halbwelt von Buenos Aires sowie einigen kubanischen und argentinischen Autoren, die nicht Polnisch und folglich seine Literatur nicht beurteilen können.

Etwa um 1960 wird Gombrowicz in Europa langsam Mode, und in den osteuropäischen Ländern lesen ihn zumal die Dissidenten mit einer Erregung, in der durchaus gemischte Gefühle hochschießen. Denn ist am Antikommunismus des radikalen Individualisten auch nicht zu rütteln, vermag er doch für die Antikommunisten oft nur Verachtung aufzubringen. Ja, Gombrowicz schienen die Verfechter und die Gegner des Kommunismus aus dem gleichen langweiligen Stoff gemacht, der da Politik, Macht, Weltverbesserung und Weltbeherrschung heißt.

Schon 1953 kritisiert der geradezu antipolitische Denker die polnische Kirche dafür, daß ihr „Gott zu einer Pistole geworden ist, mit der wir Marx erschießen wollen. Aber [...] ist das ein Triumph Gottes oder Marxens? Wäre ich Marx, so wäre ich stolz – an Gottes Stelle aber [...] wäre mir nicht ganz geheuer.“ Was Gombrowicz beklagt, ist die Verflachung des Katholizismus, der zur Partei unter Parteien verkommt und sich so eines Tages um sein ganzes spirituelles Erbe gebracht haben wird (das auch einem unreligiösen Menschen wert und auch für eine offene Gesellschaft wichtig sein kann). Indem der polnische Katholizismus sich selber so leidenschaftlich als Waffe Gottes versteht und sich auf den Kampf gegen den gottlosen Marxismus konzentriert, entzieht er sich doch zugleich seine eigenen Grundlagen. Gombrowicz schrieb dies 1953, und nach all dem, was seither geschehen ist, kann man am Ende des Pontifikats von Johannes Paul II., dem polnischen Papst, mit Istvan Eörsi nur die Hellsicht bewundern, zu der dieser politisch so desinteressierte Beobachter fähig war.

Gombrowicz interpretierend, entdeckt wiederum Istvan Eörsi, daß auch er eine Kirche hatte, deren Verfall zur weltlichen Macht ihn verstörte und für sein eigenes Leben folgenreich war. Es ist die Kirche des Marxismus, die „im Interesse praktischer Ziele unser Menschen- und Gesellschaftsbild verwässert hat“ und der er doch, vielleicht wegen der vielen interessanten Ketzer, die sie hervorbrachte, lange verbunden blieb. Auch nach 1956, als der junge Gymnasiallehrer Eörsi zu acht Jahren Gefängnis verurteilt wurde, weil er sich am ungarischen Aufstand beteiligt hatte, glaubte er in der Zelle noch, unter vielen falschen der echte Marxist zu sein.

Im Gefängnis grübelt Eörsi auch über den besonderen Weg Ungarns, über die Besonderheit der ungarischen Geschichte, von der Zeit der nationalen Selbstfindung bis herauf zum vermeintlich spezifisch „ungarischen Sozialismus“. Zur selben Zeit verhöhnt, verspottet, analysiert Gombrowicz in seinen Tagebüchern mitleidlos all die Illusionen und Idealisierungen, wie sie sich bei den patriotischen Polen zur fixen Vorstellung eines „polnischen Weges“, eines „ewigen Polentums“ verfestigt haben. Was Eörsi und Gombrowicz fassen, das sind zwei Fluchtbewegungen, mit denen sich die Polen und die Ungarn aus der nationalen Misere zu retten suchten.

Die eine Flucht aus der Geschichte erklärt die Misere stracks zum Heil und adelt gerade die zivilisatorischen Defizite zum mythischen Wesen der Nation; die andere erklärt just umgekehrt die Misere zum ewigen Verhängnis der eigenen Nation und stürzt sich aus dieser Selbstzerknirschung in eine panische Nachahmung all dessen davon, was anderswo als Fortschritt gilt.

Sowohl für die Flucht in die nationale Mythologie als auch für den Kult westlichen Fortschritts lassen sich in Polen und Ungarn große Geister, ehrliche Rebellen, verzweifelte Dichter namhaft machen. Selbst ein Sandor Petöfy beschwor im 19.Jahrhundert bei aller verzweifelten Kritik an der feudalen Rückständigkeit Ungarns doch zugleich ein mythisches, ewiges Magyarentum und verdammte jene Ungarn, die die Heimat verlassen hatten und im Ausland lebten. Andererseits ist in Polen wie in Ungarn immer die Losung populär gewesen, man müsse „Europa einholen“ – als wären Polen und Ungarn nicht von jeher europäische Staaten und Kulturen gewesen. Bitteren Hohn gießt Gombrowicz denn über jene Polen, die alles, nur keine Polen sein möchten und sich den Statthaltern des Fortschritts in Frankreich oder Deutschland panisch als die besten, die westlichsten, die europäischsten aller Europäer andienen – und sich dadurch doch „zu ewiger Zweitrangigkeit verurteilen“.

Spricht Gombrowicz mitten in den 50er Jahren nicht auch von unserer Zeit? Überall im Osten und bei den kleinen Völkern Europas ist die Gesellschaft zerfallen: Indes die einen auf den Appellplatz des Nationalismus laufen, setzen die anderen auf die Mobilmachung einer alles gleichmachenden Moderne. Und während den einen die Nation gerade in ihrer Rückständigkeit alles ist, ersehnen die anderen eine Globalisierung, die schon dafür sorgen werde, daß es gar keine Nationen mehr geben wird.

Istvan Eörsi: „Tage mit Gombrowicz“. Aus dem Ungarischen von Hans Skirecki. Gustav Kiepenheuer Verlag, Leipzig 1997, 338 Seiten, 39,90DM