Zwerge in Marienkäferfarben

Wer zehn ist und sein Herz dem SC Freiburg geschenkt hat, der hat es schwer: Heute verabschiedet sich der einmalige „Kinderkäfig“ aus der Bundesliga  ■ Von Annette Goebel

Mensch, Alexander, was ist denn bloß los hier? Wo ist denn der Schwung hin, wo bleiben die Jubelschreie, die Freudentänze? Alexander wendet den Blick nicht vom Spielfeld, verdreht nur kurz die Augen: „Frag doch den Finke.“ Dann kriecht er noch tiefer in das Gitter der Absperrung hinein, verfolgt mit leisem Stöhnen, wie sich die Freiburger mal wieder vor dem gegnerischen Tor verhaken, und schweigt. Alexander mag keine Fragen. Wer zehn ist und sein Herz dem SC geschenkt hat, der hat es schließlich schwer genug in dieser Saison, die heute mit dem Heimspiel des Absteigers gegen den Karlsruher SC endgültig ihr unrühmliches Ende findet. Der erste Liebeskummer ist der schlimmste, und nirgendwo hat es das Freiburger Dreisamstadion so schwer erwischt wie auf der Nordtribüne: im Kinderkäfig, wo 750 Kleinst-Fans Wochenende für Wochenende lernten, was Enttäuschung heißt.

Dabei hatte alles so schön angefangen, damals, im Sommer 1995, als der Kinderkäfig eingeweiht wurde. Eigene Stehringe für Sechs- bis Vierzehnjährige, von einem Zaun umgeben, damit sich kein Erwachsener reinmogelt: So etwas hatte es zuvor noch nicht gegeben. Damals war es schlicht um Sicherheitsvorkehrungen gegangen. Die Ordner waren es leid gewesen, daß die Kleinen statt auf Papas Knien immer auf den Treppen der Tribüne herumhockten und alle Wege versperrten. Seit der Erfindung des Kinderkäfigs sind die Treppen wieder frei, und die Kinder sehen mehr als Tribünengedränge. Allerdings: Anders als Papas Knie ist der Platz im Käfig nicht umsonst: Die Dauerkarte kostet 120 Mark.

Skepsis gab es nur bei den Erwachsenen. Doch alle Befürchtungen, daß die Größeren die Kleinen hauen, die Schüchternen zertrampelt und die Verträumten sich im Gewühl verlaufen würden, erwiesen sich als überflüssig. Logisch, sagen die Ordnerinnen, die nur in ganz seltenen Fällen Tränen trocknen müssen: „Die Kleinen sind doch froh, wenn sie ihre Eltern endlich los sind.“ Auch weil die Erwachsenen „immer viel zuviel Bier trinken“, wie Jasmin sagt.

Es geht fair zu im Kinderkäfig und überaus sachverständig. Wo sonst, fragt Susanne, die immer neben Alexander am Zaun klebt, kann man sich so gut über Fußball unterhalten – „ohne daß einem die Erwachsenen im Weg stehen und ständig dazwischenquatschen“. Der Kinderkäfig wurde bald das Beste, was das Dreisamstadion zu bieten hatte. Nirgendwo ist La Ola schöner als hier, nirgends wird der SC so beseelt besungen, nie war die Luft so voller Luftballons, Schals und Fahnen. Ehrensache, daß alle in schwarz-roter Clubkluft kommen: zum Zwergenfest in Marienkäferfarben.

Doch jetzt ist dem Kinderkäfig die Puste ausgegangen: Die vielen Niederlagen haben Spuren hinterlassen. Manche Fahne bleibt eingerollt, Luftballons sind seltener geworden, und die feurige Susanne, die ihre Nachbarn in der ersten Reihe sonst so gerne mit den kompliziertesten Fußballtheorien versorgt, redet manchmal lieber über Pferde. Seit der Abstieg sicher ist, haben die Jungs den Mädchen immer öfter die Plätze an der Absperrung überlassen, was selbst der beharrliche Alexander irgendwie verstehen kann: „Weil die sich ja mehr für die Spieler interessieren als das Spiel.“

Treu, doch, das sind sie. Und keiner hier, dessen Liebe nicht auch für die zweite Liga reicht: „Der SC braucht uns doch.“ Allein, das Fieber, der Rausch, die Hingabe – sie sind verlorenggegangen. Seit neuestem werden sogar manche der heiligen Rituale geschwänzt. Sicher, bei der Mannschaftsvorstellung kommen die Namen der SC-Spieler immer noch wie aus der Pistole geschossen, jeder fremde Spieler wird nach wie vor mit einem trotzigen „Na und?“ empfangen. Und wie es im Dreisamstadion Tradition ist, pflegt auch der Kinderkäfig alle Politiker konsequent auszubuhen. „Weil das sich eben so gehört.“ Aber das Badnerlied, einst von 750 Stimmchen hymnisch geschmettert, wird bloß noch lustlos mitgebrummelt.

Und für Volker Finke gibt's jetzt Pfiffe. „Früher, da war er okay“, findet Michi, „aber seit der Sache mit Schmadtke ist er nur noch ein Arschloch.“ Jörg Schmadtke ist der Torwart des SC, vielleicht nicht der beste der Welt, wie Julia zögernd zugesteht, aber einfach ein supernetter Typ, da sind sich Julia, Jasmin und Mary-Lou, die mit ihren frenetischen Kreischeinlagen zu den akustischen Säulen des Kinderkäfigs gehören, völlig einig: „Außerdem hat er so hübsche Locken.“

Finke muß das anders sehen, denn er hat Schmadtke aussortiert. Der geht nun nach Leverkusen. Unverzeihlich findet der Kinderkäfig diese Entscheidung. Jasmin, die nacheinander von ihren Lieblingen Rodolfo Cardoso, Alain Sutter und Harry Decheiver Abschied nehmen mußte, bricht es fast das Herz: „Den Schmadtke kann man doch nicht einfach rausschmeißen, das ist ja wie wenn man einen Arm ausreißt.“ Auch Nicolai kommt da mit seiner neunjährigen Lebenserfahrung nicht mehr mit: „Jeder hat doch mal Zeiten, wo er schlecht drauf ist. Da strengt man sich eben an, und dann ist es wieder gut.“ Wo doch, wenn man auf den kleinen Jannick hören würde, alles so einfach wäre: „Die müssen sich nur wieder vertragen, dann gibt es auch wieder Tore.“

Immerhin, Tore gibt es inzwischen ja wieder, auch wenn die Siege so spät in der Saison unnütz sind. Aber es ist Balsam für die angeknacksten Kinderseelen, und bei Toren findet der Käfig zur alten Form zurück: 750 Schreihälse hopsen auf den Stufen herum, Fahnen, Schals und Mützen fliegen hoch, und endlich donnert's wieder durch die Nordwestkurve: „Olé, super SCF“. Fast, als wäre alles wieder gut.

Aber nur fast: „Schmadtke, wir singen Schmadtke“, stimmt Alexander an, und alle Kinder fallen ein: „Das ärgert nämlich den Finke.“ Denn das lehrt auch die erste Liebe: Enttäuschung kennt keine Vergebung.