■ Der deutsche Fußball nach dem doppelten Revier- triumph: Zwischen Sonderweg und Modernisierungszwang
: Das Schicksal wollte es so

Der Erfolg kennt keine Grenzen: In Dortmund wurde gejubelt wie damals beim Fall der Berliner Mauer, Schalker und Borussen fraternisieren nach einer langlebigen Erzfeindschaft; Bayern München inseriert Glückwünsche in westdeutschen Gazetten, und auf dem Rasen von Mailand und München tummeln sich die jubelnden Spielerfrauen im Rahmen eines familienkompatiblen Unterhaltungsprogramms.

Nur Uli Hoeneß hatte auch diesmal den Mund zu voll genommen. Jeder Rülpser an der Säbener Straße sei für die Journaille relevanter als Borussias Abschneiden in der Champions League, tönte er vor ein paar Wochen. Dünkelhaft fügte Vize Rummenigge hinzu, Bayern sei ein Club für Europa und Borussia wohl eher für die darbende Ruhrregion bestimmt. Doch gemessen am neuen Revierzauber ist die 14. Meisterschaft der Münchner nicht viel mehr als ein Routineereignis. Am Gladbacher Bökelberg wird heute die Salatschüssel an den einstigen Dauerrivalen überreicht. Die Kultstätte Hennes Weisweilers hat gewiß schon aufregendere Titelträger erlebt. Immerhin hat Bayerns Titel einen unschätzbaren Vorteil: künftig nicht mehr Beckenbauer als RTL-Kommentator der Champions League ertragen zu müssen.

München leuchtet nicht, sondern wird überstrahlt vom Triumph des Ruhrpotts, für den es ambivalente Erklärungen gibt: auf der einen Seite das Sonderwegsdenken des Völkerpsychologen Vogts („Die deutschen Tugenden haben hier wirklich gegriffen“) sowie andererseits die Sehnsucht der Ruhrvereine nach Normalisierung, Modernität und Konkurrenzfähigkeit. Zäh und hochkonzentriert arbeitete man bei Assauer, Niebaum & Co. am Abbau professioneller Defizite und traditioneller Chaosstrukturen.

Genauso zäh versucht Vogts den erfolgreich fightenden Kohlenpott zur Schatzkammer einer unbeugsamen Stehaufmentalität zu stilisieren. Beim letztjährigen EM-Sieg in England hatte der Bundescoach den deutschen Sonderweg auf dem Rasen ausgerufen („Sich gequält, geopfert zu haben für die Mannschaft, das ist Klasse!“). Mit den imposanten europäischen Erfolgen der Schalker und Borussen wird sich Vogts bestätigt fühlen. Die Ruhrgebietskicker rammelten sich als wahre Notgemeinschaften in die europäischen Finales, so recht nach dem Geschmack des postteutonischen Tugendwächters vom Niederrhein. Mit seinem Kanzlerkommentar zum Schalker Sensationstitel verfehlte er erst recht den regionalistischen Kern der königsblauen Fußballherrlichkeit: „Ich bin froh, daß der Uefa-Cup in Deutschland bleibt.“ Dabei stand Schalke auf dem Index seiner Registratur, Ausländeranteile in der zweiten Bundesliga-Halbzeit zu ermitteln. Wegen zu geringen Deutschtums in der Mannschaft – bei Schalke kicken zu viele auswärtige Nationalspieler! – mied Vogts eine Zeit lang das Gelsenkirchener Parkstadion.

„Das Glück ist immer deutsch“, kommentierte schon El Pais nach dem ersten Auswärtssieg der Borussen bei Atletico Madrid. Berti Vogts fügte beim Semifinalmatch in Manchester apodiktisch hinzu, Deutsche verlören nicht in Old Trafford. Als sogar die Karriere des schrägen Cantona an Kohlers magnetischer Sohle enden sollte, konnte eigentlich nichts mehr schiefgehen. Schalkes Olaf Thon lieferte dazu die passende Erklärung: „Das Schicksal wollte es so.“

Dagegen krittelte man unter linken Liebhabern eines anspruchsvollen Kickens, „Utopie“ müsse wohl gänzlich aus dem westfälischen Wortschatz gestrichen werden. Der knappe Kampferfolg Borussias beim französischen Meister in Auxerre kam nur nach biederer Hausmannskost zustande. Doch das Anspruchsdenken legte sich mit der Finalerwartung. Sozialromantische Fußballbegeisterung, eine Sympathiewelle mit den Underdogs, ließ alle spielerischen Standards von einst vergessen. Plötzlich war von „brillanter Maloche“ die schwelgerische Rede. Solidarität mit den vermeintlich Schwachen war angesagt.

So avancierten knorrige Typen wie Yves Eigenrauch oder Jürgen Kohler zu den eigentlichen Vätern des Erfolgs. Schalkes Außenverteidiger wirkt wie ein forscher Freizeitkicker, mit dem sich jeder Fan im Stadion anstandslos identifizieren kann. Ebenso stilgerecht hatte Dortmunds Vorstopper zu seiner Vertragsunterzeichnung die schwarz-gelbe Ballonmütze geschwungen: „Auch ich fühle mich als Arbeiter.“ FAZ-Autor Schümer decouvrierte das regionale Identitätsgehabe im krisengeschüttelten Pütt als reines „Kunstprodukt“: „Wie kann das mit BVB gelingen, dessen Millionenverdiener angeblich die Ruhrgebiets-Arbeiterschaft hochhalten.“

Der Widerspruch zwischen Geschäft und Folklore wurde vor einem Jahr besonders deutlich, als Matthias Sammer, der sächsische Feuerkopf, vom Jung-Siegfried zum abgefeimten Stollen-Yuppie abstürzte: Der adidas-Werbeträger fremdelte mit seinen Nike- Kumpels und wollte plötzlich beim ökonomisch kommoderen Erzrivalen in München schnüren. In den feuchten Augen der vielzitierten „Menschen in der Region“ grenzte dies an Verrat.

Noch vor der Stunde des größten Triumphes bewiesen die kolportierten Querelen bei BVB, daß auch der hochprofessionell geführte Revierklub an die Grenzen seines folkloristischen Charmes gestoßen ist. Am Ende seiner erfolgreichen Modernisierung ist Borussia Dortmund ein völlig normaler Spitzenverein geworden – mit all seinen Gefährdungen durch die Zwänge des Geschäfts, dem Mediengezänk wie bei den Bayern oder den Spielerrevolten wie bei Milan.

Daneben verwandelte Rudi Assauer am Schalker Markt die Skandalnudel der Bundesliga in ein seriöses Fußballunternehmen. Ohne Stars und Allüren reüssierte eine Mannschaft zum minimalistischen Kampfbündel. Die Besten zählen nicht einmal zum Stamm der Nationalmannschaft. Derweil ist in Bochum mit dem Uefa-Cup-Teilnehmer VfL ein neues Hätschelkind aus dem Ruhrgebiet herangewachsen. Nach der langjährigen Identifikation mit der existenzgefährdenden Abstiegsbedrohung scheinen nunmehr rosigere Zeiten anzubrechen. Die Ruhrmaus ist nicht mehr grau, heißt Wosz und tanzt für die Galerie. Selbst der Bochumer Schauspielchef Leander Haußmann gestand jüngst, lieber zu Toppmöller als ins Theater zu gehen. Fußball sei „eine Form der Massenkunst, die wir nicht erreichen“. Er könne als massenverbindendes Element auch für demonstrierende Stahlarbeiter und Kohlekumpel „eine durchschlagende Waffe“ sein. Norbert Seitz