Freispruch trotz erwiesener Tötung

Gericht bescheinigt Kurras ein „subjektives Unvermögen zu korrektem Handeln“  ■ Von Wolfgang Gast

Bis zuletzt waren die Aussagen des angeklagten Polizisten Karl-Heinz Kurras fragwürdig: „Ich wurde von Demonstranten umringt, geschlagen und bedrängt. Bei dem Geschiebe und Gezerre ist der Schuß losgegangen.“ Es war der Schuß, der den Studenten Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 tötete.

Vier Monate später, am Ende des Prozesses vor dem Berliner Landgericht, waren die Angaben des Dorfgendarmen-Sohnes aus Ostpreußen weitgehend widerlegt. Keiner von 58 Zeugen hatte den Todesschuß beobachtet, keiner von ihnen konnte Kurras Behauptung stützen, er habe zunächst in Notwehr einen Warnschuß abgegeben und sei dann von Demonstranten mit Messern angegriffen worden. Sicher schien nach der Beweisaufnahme dagegen, daß die Polizisten zum Zeitpunkt des Schusses die Übermacht hatten und Kurras von keinem der Studenten bedrängt gewesen war. Der damals 39jährige Beamte, angeklagt wegen fahrlässiger Tötung, wurde dennoch freigesprochen.

Am 22. November 1967 verkündet der Vorsitzende der 14. Großen Strafkammer, Friedrich Geus, im Saal 500 des Moabiter Kriminalgerichtes (heute wird in diesem Saal unter anderem gegen die Mitglieder des Politbüros verhandelt) das Urteil: „Der Angeklagte wird auf Kosten der Landeskasse freigesprochen.“ Die Prozeßbesucher, überwiegend ältere Damen mit Hut und Wintermantel, klatschen spontan Beifall. Dennoch, es ist ein Freispruch zweiter Klasse. Richter Geus: „Die Tat war eindeutig rechtswidrig.“ Zu Kurras gewandt sagt er weiter, „das Gericht ist der einmütigen Überzeugung, daß Sie objektiv falsch gehandelt haben.“ Der Tatbestand ist erwiesen: Tötung. Und daß diese rechtswidrig war, ist unbestritten. Schuldhaftes Handeln will die Strafkammer dem Angeklagten aber nicht unterstellen. Sie hält dem Waffenliebhaber und langjährigen Kriminalbeamten zugute, er sei zum Zeitpunkt der Tat „in seiner Kritik und Urteilsfähigkeit eingeschränkt“ gewesen, und „daß ihm ein besonnenes Überlegen und Verarbeiten der Geschehnisse unmöglich war“.

„Der Angeklagte hat es mit der Wahrheit nicht ernstgenommen“, erklärt der Vorsitzende der 14. Strafkammer auch noch. Trotzdem beschließt das Richterkollegium, dem beschuldigten Kurras ein „subjektives Unvermögen zu korrektem Handeln“ zugute zu halten. Und so folgt die Kammer nicht dem Staatsanwalt, der eine achtmonatige Bewährungsstrafe für Kurras gefordert hat.

Den Richtern selbst ist in ihrer Haut nicht wohl. Geus: „Uns befriedigt dieses Urteil nicht völlig. Es bleibt ein gewisses Unbehagen.“ Das Unbehagen teilen damals auch die Kommentatoren der wahrlich nicht linken Presse. „Mit seiner Schuld ist er allein“, schreibt etwa Berlins Boulevard-Blatt B.Z.. Die Berliner Morgenpost verschanzt sich angestrengt hinter dem Rechtsgrundsatz „Im Zweifel für den Angeklagten“ – die Süddeutsche tut's ihr nach, räumt aber immerhin ein, daß „der Freispruch geradezu provozierend“ wirke. Nur Berlins Justizsenator war sich seiner Sache sicher. Studenten, die das Urteil kritisierten, kanzelt er als „bösartige Polemiker“ ab, die „den Richtern politische Motive unterstellten“. Die FDP fordert den Senat auf, „Konsequenzen daraus zu ziehen, daß ein zum Schußwaffengebrauch ausgebildeter Beamter von seinem Willen ungesteuerte Handlungen begehen konnte“.

Noch eines bleibt am Ende ungeklärt: Ob ein deutsches Gericht ebenso geurteilt hätte, wenn bei vergleichbarer Schuldfrage ein Polizist von einem Studenten erschossen worden wäre?