Eis essen Seele auf

■ Die kulturbeflissene Elektronik-Kommune Gus Gus sieht gut aus und betreibt aus der isländischen Isolation Techno als Tanztheater-Happening mit Ironiebremse

Alle jungen Menschen von Reykjavik sind heute nacht auf den Beinen. Das sind natürlich nicht so viele, trotzdem ist das schicke Veranstaltungszentrum „Perlan“bis zum Bersten mit ihnen gefüllt. Die meisten sind hackedicht, weil sie sich schon am frühen Abend mit viel zu teurem Dosenbier betrunken haben, was man in Island eben so macht, aber alle sind tiptop eingekleidet, als hätte, sagen wir mal, das englische Trend-Magazin The Face hier ein Foto-Shooting ausgerichtet.

Die Menschen da oben auf der Bühne, die sich als Band Gus Gus nennen, aber auf den ersten Blick eine Ansammlung auseinandertreibender Temperamente bilden, sehen natürlich auch verdammt gut aus, und die Beats, die sie aus ihren Computern abrufen, entsprechen Pi mal Daumen dem aktuellen Standard, den man in den House- und TripHop-Kreisen Englands findet. Aber die ostentative Zeichenhaftigkeit, mit der sich die dort oben versammelten Künstler, der Tänzer also und der Sänger und ganz viele mit dem Projekt assoziierte Personen macht das ganze zu einer harten Nummer.

„The concept is fairly easy to understand“, heißt es zum Geleit auf Polydistortion, dem aktuellen Album von Gus Gus, und während solche und ähnliche Sätze mit dem Dia-Projektor an die Bühnendecke geschmissen werden, bewegen sich die Performer mit sperriger Symbolschere über die Bühne. Techno als Tanztheater-Happening.

Aber Sinn macht diese Aufführung, wenn man einmal begriffen hat, daß Island einen Kosmos beliebig abrufbarer Zeichen darstellt. Nichts liegt hier in der feuchtkalten Luft, aber alles steht irgendwie zur Verfügung. Reykjavik ist kaum so groß wie Göttingen, kulturell gesehen ist es eine Metropole. Die Galerien sind gut bestückt, in den Plattenläden steht aktuelle Elektronika, und in einer niedlichen Einkaufsstraße sind alle wichtigen Einkleider präsent.

Eine Tatsache, die Siggi Kjartanson, Texter und Komponist von Gus Gus, ganz einfach erklärt: „Wir leben weit ab vom Rest der Welt. Das prägt. Die Menschen in Island haben Angst, etwas zu verpassen. Deshalb sind sie besessen davon, in allen nur vorstellbaren Bereichen die Nase vorn zu haben.“Leadership durch Isolation könnte man dieses Prinzip nennen, und die Mitglieder des neunköpfigen Ensembles stellen sich gerne als kreative Köpfe vor.

Gus Gus mischen überall mit. Der Sänger arbeitet sonst als Schauspieler beim Nationaltheater, ein Filmemacher kümmert sich um die visuelle Präsentation, der Mann hinterm Sampler ist auch Besitzer des wichtigsten Plattenladens der Stadt, organisiert schließlich, so heißt es, wird die ganze Chose von einem Impresario, der schon politische Kampagnen organisiert hat. So gesehen scheint hier tatsächlich ein eingefahrener Kulturbetrieb sowas wie Künstler zu produzieren, das kommt ja nicht oft vor.

Den Namen Gus Gus hat Siggi übrigens aus dem Fassbinder-Film Angst essen Seele auf, der ihn damals an der Uni sehr beeindruckte. Jaja, so sind die Isländer: Tagsüber in die Retrospektive europäischer Autorenfilmer rennen und nachts betrunken zu den schönsten Dance-Novitäten über die Tanzfläche robben. Vorbildlich, das Leben in Island.

Christian Buß

So, 29. Juni, 21 Uhr, Tonwerk, Heidenkampsweg 32