Kaltdeutsch ohne Punkt und Komma

■ Erfolg im zweiten Anlauf: Das Stück „Kalpak“der Bremer Autorin Vera Kissel demnächst am Gorki-Theater

Vera Kissel macht knappe Angaben. Die Verweise, die sie ihren bisherigen Veröffentlichungen beigibt, lassen sich kurz zusammenfassen: Vera Kissel, Autorin, 1959 in Heppenheim geboren, lebt in Bremen. Eine Berühmtheit, die man kennen müsse, sei sie noch nicht, sagt sie. Dennoch hat ihr zweites Thaterstück „Kalpak“gerade den Weg nach Berlin gefunden, wo es im September am Gorki-Theater uraufgeführt wird. Für eine junge Autorin aus der Hansestadt, und dazu noch eine lebende, wie sie lachend anmerkt, ist das schon beachtlich.

Dem „Instinkt des Vaters“, der als Regisseur und Autor für Theater und Fernsehen arbeitete, ist es zu verdanken, daß dies auf eher ungewöhnliche Weise gelang. Das war im März diesen Jahres. Mit seinen Kontakten fand sie zwei namhafte Fürsprecher – Kurt Hübner und die Hannoveraner Dramaturgin Kekke Schmidt. Dadurch ermutigt, sandte sie das „Kalpak“-Manuskript an zwanzig Theater im Lande. Ohne Hilfe eines Verlags, der sonst den Theatern Stücke vorlegt, begeisterte ihr Schauspiel „vom Stapel runter“Oliver Reese, den Chefdramaturgen des kleinen Berliner Staatstheaters. Er führt jetzt selbst Regie.

Mittlerweile sind die Proben im Gorki-Theater im Gange. Beim ersten Lesen, gestand Oliver Reese der Autorin, war es etwas gewöhnungsbedürftig: „Huch, Kunst...“, sei es ihm entfahren, als er den Text und den Zeilenumbruch ohne Punkt und Komma zu Gesicht bekam. Regieanweisungen gibt es kaum und auch die Schauspieler sind gefordert: „Wo hört der Satz auf?“

Die Zusammenarbeit verläuft nun anregend, erzählt Vera Kissel und erinnert an den Besuch der ersten Leseproben im Juni. Einiges hat sie danach im Zuge der Auseinandersetzung noch am Stück verändert. Auch Regisseur und Ensemble haben herausgefunden, „daß ich nicht beiße“. Der Sprache ihres Stückes hingegen bescheinigen die DramaturgInnen am Gorki-Theater in der Ankündigung zur Premiere , daß sie „knapp, prägnant, kalt, messerscharf, entlarvend...“sei. In den Text hineinschauen dürfen nur wenige Eingeweihte. „Kalpak“ist auch so etwas wie ein Krimi, sagt die Verfasserin, und da soll vom Ende auf gar keinen Fall etwas verraten werden.

Nur soviel: Elsbeth, eine von sieben Frauenfiguren, will überleben und lieben, und das im Frühling des Jahres 1945 in einer westdeutschen Großstadt. „Ich will lieben / wies alle tun erst streicheln / dann ein schlag in die fresse“. Aus Nächstenliebe und Liebessehnsucht nimmt sie den Russen Nikolai Kalpak, einen entflohenen Häftling des nahegelegenen KZ-Arbeitslagers und einzige männliche Figur im Stück, bei sich auf – und zu sich ins Bett. Auch ihre Tochter sehnt sich. Die Zeit hält das Wort „Blutschande“dafür bereit.

Ein „spätes Nachkriegskind“sei sie, sagt Vera Kissel. Als wesentliche Bedingung ihrer ersten Mädchenjahre im Odenwald, und mehr noch später im städtischen Gelsenkirchen, empfindet sie das, was damals immer noch „verstört und zerstört“schien: Der Nachbar, dem ein Bein fehlte. Die noch andauernde Unruhe der Mutter, wenn es Sirenenalarm gab. Ein Bombentrichter, den die Kinder als Spielplatz nutzten. Literarisch verarbeitet sie Geschichte zu Familiengeschichte, Geschichte im und aus dem Alltag. Und das sind doch immer auch Liebesgeschichten. So wie eine eigene, die sie 1988 nach Bremen führte.

Das ist jetzt ihre Heimat. Und – obwohl nicht gerade ein ausgesprochener Hort der Literatur – ein Ort, an dem es sich gut arbeiten läßt. Das tat sie vormals als Journalistin, jetzt steht die Literatur im Vordergrund. „Zeitgenossin kann ich überall sein. Die großen und kleinen Entwicklungen kommen immer auch hier an“.

Wenn sie sich auf Spaziergängen mit viel Muße ihre Worte er-läuft und vorwiegend dem Unscheinbaren, den Situationen und Menschen aufmerksam nachspürt, dann werden Gedichte daraus oder ein dramatischer Text wie „Kalpak“. Mit den Figuren lebte sie in Gedanken schon ein Jahr, bis sie deren Verstrickungen endlich fürs Theater niederschrieb. Durch die Übernahme ihres Stückes in den Spielplan des Gorki-Theaters ist sie immer häufiger in Berlin. Vielleicht ist das ein Anfang, um eines Tages wirklich vom Schreiben leben zu können. Noch führt der Weg dazu übers Arbeitsamt. Heike Wagner

Gedichte von Vera Kissel und Auszüge aus ihrem ersten Theaterstück „Mutter der Komödianten“bei: „STINT. Zeitschrift für Literatur“, Bremen