Nur acht Stufen bis zur Barbarei

■ taz Architektur Sommer: HamburgerInnen beschreiben ihr meistgeliebtes oder meistgehaßtes Gebäude der Stadt. Teil IV: Wilfried Weinke über die unselige Geschichte der Moorweidenstr. 36 336

Weiß strahlt das Haus hinter den großen Linden und Platanen hervor. Über der schweren, zweiflügeligen Eingangstür steht in goldenen Lettern geschrieben, wer hier residiert: die Provinzialloge von Niedersachsen. Doch das prächtige, an einen Tempel erinnernde Gebäude hat eine bedrückend-traurige Geschichte.

Die Freimaurer-Provinzialloge Niedersachsen ließ es zwischen 1907 und 1909 nach Plänen der Architekten Gerhardt, Schomburgk und Strelow erbauen. Da die humanitäre Ethik der Logen, die sich über Volkszugehörigkeit und Konfession hinwegsetzte, den Nationalsozialisten ein Dorn im Auge war, wurde die Freimaurerbewegung verboten, ihre Mitglieder verfolgt, ihr Besitz beschlagnahmt. Vermutlich seit 1937 gehörte das Haus der Stadt Hamburg.

1941 „nutzte“die Gestapo das Gebäude für ihre Zwecke. Hinter der euphemistischen Formulierung „Evakuierung der Juden aus Hamburg“verbarg sich die Zwangsvertreibung jüdischer Bürger in die Vernichtungslager im besetzten Osteuropa. Das ehemalige Logenhaus in der Moorweidenstraße diente als Deportations-Sammelstätte.

Das Vermögen wurde beschlagnahmt. Mit wenig Gepäck, Bettzeug und Verpflegung für drei Tage hatten diejenigen, deren „Evakuierung“befohlen war, sich „in dem Hause Moorweidenstraße 36 (Logenhaus) einzufinden“.

Um nach der Zwangsverschleppung jüdischer Bürger Hamburgs auch einen Zugriff auf deren Besitz zu haben, verfügte der „Evakuierungsbefehl“: „Nach Verlassen der Wohnung haben Sie diese zu verschließen und die Wohnungsschlüssel bei Ihrem zuständigen Polizeirevier abzugeben... Sie sind für den ordnungsgemäßen Zustand Ihrer Wohnung und das Erscheinen Ihrer Angehörigen bei der Meldestelle verantwortlich.“Nach der Liquidierung der Verschleppten die Liquidation ihres Hab und Guts zugunsten des Deutschen Reiches!

Von Oktober bis Dezember 1941 haben mehr als 3000 Menschen über die acht Stufen ins Innere des Hauses Moorweidenstraße 36 gehen müssen, um hier, wie es in einem zeitgenössischen Bericht hieß, „von Beamten der Gestapo abgefertigt“zu werden. Die Ziele der vier „Transporte“, deren Ausgangspunkt das ehemalige Logenhaus war, hießen Lodz, Minsk und Riga. Wer nicht im Getto verhungerte oder durch Arbeit vernichtet wurde, der wurde vergast oder, wie in Riga und Minsk, in Massenerschießungen ermordet.

Zu den wenigen Überlebenden, deren Leidensweg durch Gettos, Vernichtungs- und Konzentrationslager in der Moorweidenstraße begann, gehören Lucille Eichengreen und Heinz Rosenberg. In ihren Büchern Von Asche zum Leben und Jahre des Schreckens... und ich blieb übrig, daß ich Dir's ansage legen sie Zeugnis darüber ab, was nach 1933 in Deutschland menschenmöglich war.

Zwar trägt die Rasenfläche zwischen Moorweidenstraße und Edmund-Siemers-Allee seit 1988 den Namen „Platz der jüdischen Deportierten“, erinnert seit 1983 das von Ulrich Rückriem geschaffene, sehr umstrittene Mahnmal an die Deportation Hamburger Juden. Doch keine Hinweistafel verweist auf den eigentlichen Ort tausendfacher Heimatvertreibung.

Wilfried Weinke ist freier Autor.