Ein Frohgeist namens Stalin

Vergessenes Genre Hollywoodfilm: Dana Rangas Dokumentation „East Side Story“ behandelt das Unterhaltungskino des Ostblocks  ■ Von Gudrun Holz

Wer im Kino von jenseits des Eisernen Vorhangs kommt, der lacht nicht. Weder Dr. No noch Greta Garbo als Ninotchka wollten besonders komisch oder unterhaltsam sein. Ernste Mienen, ernste Aufgaben. Einen ganzen Film brauchte die Garbo in der Rolle einer Komintern-Kommissarin als suspense, bis sie am Ende endlich ein scheues Lächeln aufsetzte.

Angesichts dieser Klischees muß die Zahl von vierzig Musikfilmen, die im Ostblock entstanden, überraschen. Mit zahlreichen Filmausschnitten und gestützt auf kompetente Zeitzeugen wie die Filmhistorikerin und ehemalige Dramaturgin bei Mosfilm, Maja Turowskaja, schildert Dana Ranga in dem Dokumentarfilm „East Side Story“ detailreich die von ihr recherchierte Geschichte eines Schattengenres.

Neben dem Primat erster und politisch relevanter Stoffe waren die Revue- und Musikfilme von Zensur und Kritik oft nur ungern geduldete Produkte: Sie konnten entstehen, weil es beispielsweise die ZK-Offiziellen in der SBZ wurmte, daß das sozialistische Individuum in West-Berlin Marika- Rökk-Filme frequentierte, oder weil jemand erkannte, daß man auch mit leichter Unterhaltung ganz passabel Propaganda machen konnte.

Dieser Frohgeist namens Stalin machte Anfang der dreißiger Jahre den gerade von einer Amerika- Reise mit seinem Kollegen Sergej Eisenstein zurückgekehrten Grigori Alexandrow zu seinem filmischen Hofnarren. Nur durch eine Empfehlung Gorkis fand dessen in ausgelassener Hollywoodmanier gemachter Possenfilm „Lustige Burschen“ (1934) an der Zensur vorbei die Gnade des Diktators.

Den späteren „Wolga, Wolga“ (1938) soll Stalin an die hundertmal gesehen haben, eine Kopie verehrte er sogar dem damaligen Kriegsverbündeten Roosevelt. Viele der Lieder in diesen Filmen wurden Allgemeingut des dankbaren Publikums – selbst das Stalin- Lied aus „Traktoristen“ (1939) der in seinen Bildmetaphern Acker und Schlachtfeld, Traktor und Panzer fast ununterscheidbar macht, wurde Jahre später noch an geselligen Abenden zwischen Volksliedern gesungen, erzählte Turoweskaja der Regisseurin. So konnte zu Zeiten des Nahrungsmittelmangels das Publikum zumindest auf der Leinwand rotwangige Kolchose-Mädchen knietief im Korn stehen und mit den Komsomolzen schäkern sehen.

Zweckmäßig choreographierte Gruppennummern anstelle von Broadway-Klamauk oder Gershwinscher Leichtigkeit: Die Umsetzung des Takts der Maschinen und Arbeitsabläufe in choreographierte Gruppennummern führt ebenfalls sehr plastisch „Der Helle Weg“ (1940) vor. Es ist eine als modernes Märchen ausgelegte Aschenputtelgeschichte mit dem Publikumsidol Ljubow Orlowa, die weit entschwebt von den innenpolitischen Realitäten der „Säuberungen“ eine ganze Fabrik im Alleingang schmeißt. Die Ära dieses Genres – Ranga vergleicht die Filme mit den Hollywood-Musicals der Depressionszeit – endete 1953 mit dem Tod Stalins.

Deutlich versucht sich der – nebenbei recht unterhaltsame – Dokumentarfilm jedoch nicht in Ostalgie. In der DDR endete der erste Versuch in Sachen Musical („Meine Frau macht Musik“, 1958) für den Regisseur Hans Heinrich vor einem Untersuchungsausschuß. Dabei war die Geschichte um eine Hausfrau mit Starallüren und eigenem Berufswunsch eigentlich recht geschickt eingefädelt. Die Beine für die Häschen- und Spaliernummern lieh das Ballett des Friedrichstadtpalastes, und als Clou spielte ausgerechnet Nationalpreisträger und Heldendarsteller Günter Simon („Ernst Thälmann, Führer seiner Klasse“ 1955) die männliche Hauptrolle. Trotzdem kam die allzusehr an westliche Filme orientierte „zu schöne Darstellung des sozialistischen Alltags“ auf den Index. Nachdem Pläne für einen Fortsetzungsfilm torpediert wurden, setzte sich Heinrich resigniert in den Westen ab. Stets klaffte, wie in den Zensurakten nachzulesen ist, eine extreme Diskrepanz zwischen den Einschätzungen der Kulturfunktionäre und den exorbitanten Besucherzahlen von Filmen der sogenannten „leichten Muse“.

Mittenrein in das Problem, Filme in einem eigentlich unmöglichen Genre zu machen, begab sich 1962 Gottfried Colditz mit „Revue um Mitternacht“. Die satirische Film-im-Film-Geschichte war eigentlich aus einer faktischen Not geboren. Also inszeniert „Revue“ eine Entführung, mit der eine ganze Filmbesatzung (darunter der junge Manfred Krug) hopps genommen und zur Produktion einer musikalischen Komödie gezwungen wird. Sagt eine der Entführerinnen: „Mensch, was soll denn die Wäscheleine?“ Antwort: „Wir sollen doch die Leute fesseln, dachte ich.“ Verschanzt hinter Eulenspiegel und Wochenpost wird schließlich auch die Kritik ironisiert, im Swing-Sound versteht sich.

Verglichen mit der Gigantik amerikanischer Produktionsmaschinerien war die Lage technisch gesehen ohnehin paradox, wie Ex- DEFA-Kameramann Erich Gusko in einer der Interviewpassagen anmerkt. Alle Leute im Studio hatten stets ein ominöses rotes Lämpchen im Auge, jeder Dreh mußte akribisch vorausberechnet werden, weil sonst irgendwo in Potsdam in einer Fabrik – dank des Wattverbrauchs am Set – die Lichter ausgehen würden.

Karin Schröder, die für ihre Rolle „Geliebte weiße Maus“ (1964) den Beinahmen „Doris Day des Ostens“ erhielt, berichtet vom immer großen Erstaunen westlicher Kollegen, wenn sie auf Festivals mit dem Film gastiert. Trotz des zoneneigenen Improvisationstalent war nach zwei Jahrzehnten und einem halben Dutzend Filmen mit dem Einmarsch in Prag auch in der DDR der Musikfilm tot. Schlußlicht war „Heißer Sommer“ (1968) von Jo Hasler mit Chris Doerk und Frank Schöbel, der schwer auf Halbstarken macht, während der Plot an ein Gershwin- Musical erinnert.

Viel zu spät folgte ein Nachfolger, denn ein kommerzieller Anreiz existierte nicht, wichtiger blieb da die ideologische Verläßlichkeit. Es gab einfach keinen offiziell abgesegneten Kanon, keine annehmbaren Vorbilder. Die UFA-Tradition wollte man nicht, Hollywood war verpönt, und die Traktorenfilme indiskutabel. Leider vervollständigen die Rückzieher und Absagen, die die Filmcrew nach erstem Enthusiasmus von einigen damals Filmschaffenden erhielt, das rückblickend zwiespältige Bild. Postwendedepression und die verschämt weiterhin übernommene Einschätzung, „das sei keine ernstzunehmende Filmkunst“ mögen die Gründe sein.

Obwohl sie Erstaunliches an Hintergründen in den Archiven und Interviews zutage gefördert hat, sagt Dana Ranga: „Wir sind teilweise auf die gleichen Wände, die gleichen Vorbehalte bei den Recherchen gestoßen wie damals wohl die Filmemacher.“

Dana Ranga: „East Side Story“, 77 Min. (Termine siehe cinemataz)